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Wölfe und Kojoten

Wölfe und Kojoten

Titel: Wölfe und Kojoten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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und
ihn dann hinausgeworfen.«
    »Hat er dir geglaubt?«
    »Kann ich nicht sagen. Aber ich glaube
nicht, daß er weiß, wo du bist. Trotz seines harten Auftretens wirkte er
irgendwie hilflos.« Das war einerseits positiv, andererseits beunruhigend. Wenn
die Person, die ich draußen gesehen hatte, kein RKI-Mann war, wer konnte es
dann sein? Einer von den Kidnappern? Einer von Salazars »Leuten«? Jemand, von dessen
Existenz ich noch gar nichts wußte?
    »Shar«, sagte John, »wenn sie mich
gefunden haben, dann finden sie auch...«
    »Ich weiß. Ich muß hier raus. Du mußt
mir aber noch einen Gefallen tun. Ich stecke meinen Zimmerschlüssel vom Bali
Kai in einen Umschlag und schicke ihn dir. Fahr bitte hin und hol mein Zeug ab.
Hinterlaß den Schlüssel im Express-Checkout und bring den Mietwagen — der
Schlüssel liegt im Zimmer — zum Flughafen zurück. Behalt meine Sachen bei dir
zu Hause.«
    »Mach ich.«
    »Danke. Ich rufe dich an, wenn das hier
vorbei ist.«
    Es folgte eine lange Pause. Dann sagte
er: »Okay, du Miststück. Du willst dich also nicht einmal auf einen Drink mit
mir treffen. Dann kannst du mich mal« und hängte ein. Sein Verfolger war nahe
genug herangekommen, um das Ende des Gesprächs mitzubekommen. Für einen Moment
kamen mir Bedenken, doch dann sagte ich mir, daß mein Bruder sehr gut auf sich
selbst aufpassen konnte. Zudem wußte Gage Renshaw sicher, daß er von John nicht
bekommen würde, was er suchte, besonders nicht mich.
    Ich stand auf, holte Pas .45er vom
Couchtisch, wohin ich ihn vor meinem Nachmittagsschlaf gelegt hatte, und
schlich durch das Haus und sah aus jedem Fenster hinaus. Vom leeren Salon, in
dem meine Schritte widerhallten, entdeckte ich ein Stück die Straße hinunter
einen parkenden Wagen. Es war ein alter, dunkel lackierter Ford, schäbiger als
die Fahrzeuge der meisten Nachbarn, der die beiden letzten Nächte dort nicht
gestanden hatte. Das Kennzeichen war im diffusen Schatten eines großen
Pfefferbaums nicht zu erkennen. Eine Zeitlang blieb ich vor dem Fenster zur
Straße in der Hocke. Dann war ich einigermaßen sicher, daß niemand in dem Wagen
saß.
    Dennoch beruhigte mich das nicht
besonders. Nachdem ich mich ein paar Stunden lang hin und her gewälzt hatte,
gab ich die Hoffnung auf weiteren Schlaf auf. Ich zog mich an, packte meine
Sachen und die, die ich mir von Karen ausgeliehen hatte, in eine Tasche, die
ich in einem Schrank in Charlenes und Patsys altem Zimmer gefunden hatte. Dann
bereitete ich mir aus den Resten meines Einkaufs ein neues Sandwich, wickelte
mich in die Steppdecke auf der Wohnzimmercouch und wartete. Ich wartete auf die
Morgendämmerung hinter den Fenstern, das klagende Gurren der Tauben im Cañon
und das Einsetzen des fernen Verkehrslärms auf dem Freeway, das den Exodus der
Pendler aus der Umgebung anzeigte. In meiner Isolierung hinter dicken Wänden
und in der Dunkelheit spürte ich erneut das vertraute Gefühl, bespitzelt zu
werden. Bruchstücke einer alten Geschichte gingen mir durch den Kopf — einer
Gute-Nacht-Geschichte, die uns unsere etwas unheimliche Tante Clarisse oft
erzählt hatte und die einem durchaus Alpträume machen konnte. An viel konnte
ich mich nicht mehr erinnern, nur an die wiederholte Warnung, die mir, von
meiner Tante höchst dramatisch vorgetragen, noch in den Ohren klang: »Nimm dich
in acht vor dem Wolf in der Dunkelheit. Er ist wachsam und geduldig, und wenn
er dich fängt, dann frißt er dich — mit Haut und Haaren.«
    Ich hatte geglaubt, ich wäre über
solche Geschichten hinweg, da mir das wirkliche Leben furchterregender schien.
Doch nun merkte ich, daß die atavistischen Ängste, die sie auslösten, noch
immer Macht über mich hatten. Birgt nicht jeder von uns einen Wolf im dunklen
Abgrund seiner Seele? Der meine war wohl wilder und blutrünstiger als die
meisten anderen. Und was würde passieren, wenn ein solcher Wolf menschliche
Gestalt annahm?
    Vielleicht konnten mir solche Gedanken
erst dann nichts mehr anhaben, wenn ich die Antwort auf diese Frage gefunden
hatte.

 
     
     
    Zweiter Teil

Montag,
14. Juni
    04 Uhr 54
     
    Als ich oben auf dem hoben Damm ankam,
zog die Morgendämmerung schon herauf. Die Felsen und Sträucher auf der anderen
Seite nahmen Formen an. An dieser ungeschützten Stelle blies der kalte Seewind
heftiger. Ich lag flach auf dem Bauch und hob langsam den Kopf, um mich
umzusehen.
    Unter mir bewegte sich etwas: Es
konnten Tiere, pollos, Kojoten sein — oder auch nur Zweige, durch die

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