Wölfe und Lämmer: Kriminalroman (German Edition)
Briefzentrum Pattensen. Robin spürte seinen Herzschlag. Feierlich trug er die Post über den Hof. Hannes kam ihm entgegen.
»Morgen Robin. Sag, wie ist es gelaufen heute morgen?«
»Alles in Ordnung«, sagte Robin. Er drückte Hannes die Post in die Hand, und ehe der noch etwas sagen konnte, ging Robin mit raschen Schritten davon und verschwand im Haus. Dort warf er Klaras Päckchen auf deren Fußabtreter und schwebte die Treppe hinauf. Er legte den Brief auf seinen Schreibtisch und beschwerte ihn vorsichtshalber mit dem Locher. In der Küche setzte er Tee auf. Er zelebrierte die Teezubereitung, trug Kanne und Tasse an seinen Schreibtisch. Er wusch sich gründlich Gesicht und Hände. Dann wog er den Brief in seiner Hand und roch daran. Er roch nach nichts. Aus der Schreibtischschublade kramte Robin einen silbernen Brieföffner hervor und ritzte damit den Umschlag so vorsichtig an, als vermutete er eine Bombe darin. Ein zweimal gefaltetes, kariertes Blatt aus einem College-Block fiel heraus. Robin entfaltete es, fuhr mit dem Ellbogen über die Schreibtischplatte, ehe er den Brief vor sich hinlegte und die klare, blaue Druckschrift Wort für Wort in sich aufsog.
Die gelben Finger der Frau spielten mit den Griffen ihrer Handtasche, die sie auf dem Schoß hatte. Man sah ihr an, daß sie gerne geraucht hätte, aber ein Schild verbot das Rauchen in diesem Dienstraum.
»… und sein Handy ist abgeschaltet, nicht einmal die Mailbox geht dran, und auf den Anrufbeantworter bei ihm zu Hause habe ich schon viermal gesprochen.«
»Wie alt ist Ihr Sohn?«
»Zweiundzwanzig.«
»Da ist es doch normal, daß er mal eine Woche nicht anruft, meinen Sie nicht?«
Die Frau schüttelte den Kopf. Ihre Dauerwelle war frisch und hatte den rot gefärbten Haaren ordentlich zugesetzt. »Normalerweise, schon. Aber ich hatte gestern meinen Vierzigsten. Den hätte er niemals vergessen.«
»Sind Sie da sicher, ja?« entgegnete der Beamte. Er war ein Glatzkopf um die Fünfzig, und ein begehrlicher Blick glitt immer wieder zu seinem Schinkenbrot ab, das rechts von ihm auf einem Aktenschrank lag.
Die Frau nickte.
»Haben Sie jemanden zu seiner Wohnung geschickt, der mal nachsieht?«
»Nein. Ich kenne niemanden von seinen Freunden in Hannover.«
»Was macht Ihr Sohn dort?«
»Er studiert im sechsten Semester BWL und Maschinenbau«, kam es stolz.
»Kann er das nicht hier?« erkundigte sich der Polizist.
»In Pirna? Wohl kaum«, gab die Frau unwirsch zurück.
»In Dresden.«
»Er ist Werkstudent bei Conti. Sonst könnte er sich kein Studium leisten, ich bin alleinerziehend und arbeitslos. Hören Sie, ich habe auch in der Kneipe angerufen, in der er manchmal abends arbeitet. Er hätte am Donnerstag arbeiten sollen, ist aber nicht erschienen und hat sich nicht entschuldigt. Da muß etwas passiert sein.«
Der Polizist nickte bedächtig. »Gut. Ich werde die Kollegen in Hannover informieren, damit sie eine Streife vorbeischicken und da mal nach dem Rechten sehen. Hat Ihr Sohn ein Auto?«
»Nein.«
Der Mann zog ein paar Schubladen auf, bis er das passende Formular gefunden hatte. Er legte es vor sich auf die grüne Ablage, warf noch einen sehnsüchtigen Blick auf das Schinkenbrot, dann nahm er einen Kugelschreiber zur Hand.
»Dann bräuchte ich mal Ihre Personalien.«
»Mario Goetsch, geboren am fünften …«
» Ihre Personalien«, unterbrach der Polizeibeamte.
»Meine? Wozu das denn? Sie sollen meinen Sohn suchen!« rief die Frau aufgebracht.
»Schon. Aber es muß ja alles seine Ordnung haben, oder?« sagte der Polizist streng. »Also: den Personalausweis, bitte!«
Robin trat in die Pedale. Das Fahrrad war ungewohnt, aber nicht schlecht. Beinahe hätten sie es vergessen, nein er hätte es vergessen, aber Klara hatte, wie immer, an alles gedacht.
»Kann ich es nicht behalten, wo meines jetzt weg ist?«
Klara hatte ihn nur angesehen als wolle sie sagen: hoffnungsloser Fall.
»Du fährst damit am besten in die Stadt und stellst es unabgeschlossen irgendwohin. Zieh Handschuhe an, wegen der Fingerabdrücke.«
Der Auftrag kam ihm nicht ungelegen. Er konnte schließlich nicht den ganzen Tag im Bett bleiben und grübeln, zudem hatte er heute keine Lust auf weitere Begegnungen mit Hannes und Barbara, und schon gar nicht auf dieses Journalistengesindel, das bestimmt den ganzen Nachmittag auf dem Gut herumlungern würde. Das Wetter sah aus, als würde es zumindest nicht regnen. Er fuhr mit dem Rad über die Dörfer direkt bis nach
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