Wölfe und Schafe - Ein Alex-Delaware-Roman 11
lange her, dass ich im Chemie-Gebäude gewesen war, und damals auch nur, um ein Seminar zur Psychopathologie zu besuchen, das man aus Platzmangel zu den Chemikern verlegt hatte. Damals, als ich an meiner Dissertation saß, war Psychologie nämlich das beliebteste Studienfach an der Uni gewesen, und die Hörsäle waren zum Bersten voll mit Menschen, die nach Selbsterkenntnis strebten. Zwanzig Jahre später war Zukunftsangst das dominierende Gefühl, und Betriebswirtschaft rangierte unangefochten an der Spitze der Beliebtheitsskala.
Die Gänge im Chemie-Gebäude rochen noch immer so säuerlich wie damals, und die Wände waren zahnpastagrün, vielleicht ein bisschen schmutziger. Es war niemand zu sehen,
aber hinter Türen, auf denen LABOR stand, hörte ich es zischen und brodeln.
Im Vorlesungsverzeichnis waren zwei Steinbergers aufgeführt, Gerald und Julia, und beide hatten ihr Büro im zweiten Stock. Ich ging die Treppe hinauf und fand Julias.
Die Tür stand offen. Eine attraktive Frau, etwa Mitte dreißig, saß am Schreibtisch und korrigierte Klausuren mit melodischer Musikuntermalung aus dem Radio. Sie trug eine graue Hose und einen schwarzen Pullover über einer weißen Bluse. Auf ihrer Brust ruhte eine Kette aus Bernstein und Silber, die irgendwie orientalisch wirkte. Sie hatte gerade Schultern, ein ernstes Gesicht mit einem erstaunlich spitzen Kinn und glänzendes kastanienbraunes Haar, das schulterlang geschnitten war. Der Pony endete anmutig knapp über den elegant geschwungenen Augenbrauen. Die Augen waren grau, klar und gelassen, als sie aufblickte. Schön, wirklich schön. Diese Augen machten sie zu einer Schönheit.
Sie hakte ein Blatt ab und legte es beiseite. »Ja?«
Ich erklärte, wer ich war, bemühte mich erfolglos, plausibel zu klingen, und sagte, ich wollte mit ihr über Hope Devane reden.
»Oh.« Verwirrt. »Können Sie sich irgendwie ausweisen?« Angenehme Stimme mit einem leichten Chicagoer Akzent.
Ich zeigte ihr den Ausweis. Sie sah ihn sich eingehend an.
»Bitte«, sagte sie, gab ihn mir zurück und deutete dann auf einen Stuhl.
Das Büro war klein und vollgestopft mit dem üblichen metallgrauen Unimobiliar. Die Klausuren auf dem Schreibtisch stapelten sich hoch. Diejenige, die sie gerade zur Seite gelegt hatte, war voller Berechnungen und roter Fragezeichen. Professor Steinberger hatte sie mit einer Drei minus benotet. Als sie sah, dass ich darauf schaute, legte sie ein Notizbuch
obendrauf. In dem Augenblick klingelte das Telefon.
»Hi«, sagte sie. »Im Augenblick nicht.« Sie sah mich an. »Vielleicht in einer Viertelstunde. Ich komme rüber.« Hübsches Lächeln. Erröten. »Ich dich auch.«
Sie legte auf, rollte vom Schreibtisch zurück und legte die Hände in den Schoß. »Mein Mann sitzt ein paar Türen weiter. Normalerweise machen wir gemeinsam Mittagspause.«
»Wenn es Ihnen jetzt gerade nicht passt -«
»Nein, er hat noch zu tun, und ich glaube nicht, dass wir lange brauchen werden. Also, erklären Sie mir das bitte noch mal, ich habe es nicht ganz verstanden. Sie sind Psychologe und arbeiten mit der Polizei zusammen an der Aufklärung des Mordes an Hope?«
»Ich arbeite häufig im Bereich der forensischen Psychologie und werde gelegentlich gebeten, die Polizei bei schwierigen Fällen zu beraten. Der Mord an Hope ist bis heute ungelöst. Es gibt keine Spuren, und jetzt hat ein neuer Detective noch einmal ganz von vorne angefangen. Offen gesagt gehöre ich zur Abteilung hoffnungslose Fälle.«
»Na ja«, erwiderte sie, »jedenfalls bin ich froh, dass die Polizei noch immer an dem Fall arbeitet. Ich dachte schon, sie hätten aufgegeben.«
»Warum?«
»Weil nach etwa einer Woche nichts mehr darüber in den Nachrichten kam. Es stimmt doch wohl, je länger ein Fall ungelöst bleibt, desto schlechter stehen seine Chancen, je aufgeklärt zu werden?«
»Im Allgemeinen ja.«
»Wie heißt der neue Detective?«
Ich sagte es ihr, und sie schrieb sich den Namen auf. »Hat es irgendetwas zu bedeuten, warum er nicht selber kommt?«
»Das liegt an einer Mischung aus Zeitknappheit und Strategie«,
entgegnete ich. »Er arbeitet allein an dem Fall, und bislang waren die Gespräche, die er mit Mitgliedern des Lehrkörpers geführt hat, nicht sonderlich erfolgreich.«
»In welcher Weise?«
»Sie behandeln ihn wie einen Volltrottel.«
»Ist er das?«
»Nein.«
»Tja«, sagte sie, »mag sein, wir als Gruppe neigen zu Intoleranz... dabei sind wir in Wirklichkeit gar keine Gruppe.
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