Woerter durchfluten die Zeit
öffnete die Tür.
Hintereinander liefen sie die Treppe hinunter und traten vor die Tür. Heute Morgen war es windstiller als am Abend zuvor. Der Himmel war wolkenlos, aber trotzdem war es empfindlich kalt. Lucy vergrub ihr Gesicht in dem Schal und sog seinen Duft ein.
Nathan steuerte zielstrebig auf den St. James Park zu, der seinem Haus gegenüber lag. Eine Weile liefen sie schweigend nebeneinander her.
Der Park war verlassen, wenn man von den wenigen Joggern und den schwarzen Raben absah, die ihnen Gesellschaft leisteten. Vorwitzige Eichhörnchen, die zu Hunderten den Park bevölkerten, flitzten vor ihnen über die Wege. Immer wieder stellte sich eins vor ihnen auf, um zu betteln. Lucy bedauerte, dass sie nicht daran gedacht hatte, etwas Toast mitzunehmen. Wenn sie sonst den Weg durch den Park zur Arbeit nahm, hatte sie meistens etwas dabei.
»Ich bin dir eine Erklärung schuldig«, begann Nathan. »Ich weiß, dass ich längst mit dir hätte sprechen müssen.« Er schwieg. »Wir tragen beide das Mal«, fuhr er fort, »weil wir beide Kinder des Bundes sind. Jede Generation bringt ein Mädchen und einen Jungen hervor. Unsere Aufgabe ist es, das Wissen der Menschen zu bewahren und zu verhindern, dass es missbraucht wird. So war es immer und so wird es immer sein.«
Lucy sah ihn irritiert an.
»Am besten beginne ich ganz am Anfang«, sagte Nathan daraufhin. »Die Ursprünge unserer Gabe liegen weit zurück. Über zweitausend Jahre ist es her, seit die ersten Kinder mit dem Mal geboren wurden. Ich habe dir von den Katharern erzählt«, begann er noch einmal. »Sie waren eine christliche Glaubensgemeinschaft in Okzitanien. Heute gehört dieses Gebiet zu Frankreich. Der Papst ließ sie unter fadenscheinigen Begründungen verfolgen und vernichten. Nur wenige Anhänger überlebten die Hetzjagd. Die wenigen Überlebenden flohen nach England und gründeten den Bund. In diesem sind heute die Familien vereinigt, die der Verfolgung entgangen sind. Die Katharer waren Christen wie die Katholiken und trotzdem trennten sie wesentliche Anschauungen des Glaubens. Die Katharer waren der Überzeugung, dass Luzifer die Welt der Menschen geschaffen hat. Anders war es für sie nicht zu erklären, dass es so viel Böses in der Welt gibt – all diese Krankheiten, Kriege, Hass, Habgier, Verrat und Missgunst. Kein gütiger Gott würde seiner Schöpfung dies zumuten. Die Existenz des Dualismus ist unverzichtbarer Bestandteil des Glaubens.«
Lucy sah ihn fragend an.
»Sie glauben daran, dass die Welt in Gut und Böse zu unterteilen ist. In Schwarz und Weiß. Es gibt immer und überall beide Seiten der Medaille, verstehst du?«
Er warf Lucy einen Blick zu, sie nickte und lauschte seinen Worten. Also sprach er weiter.
»Trotz der Verfolgung hat der Bund an seinem Glauben festgehalten. Wir führen unsere Bestimmung auf das Evangelium des Johannes zurück. Der Legende nach bat Christus Johannes, seinen Lieblingsjünger, sein Vermächtnis niederzuschreiben. Unser Auftrag ist in diesem Buch verankert. Wir sind dazu bestimmt, das Wort zu schützen. Die Kinder, die in jeder Generation geboren werden, müssen diese Aufgabe erfüllen. Wir besitzen die Fähigkeit, besondere Bücher auszulesen und in Obhut zu nehmen.«
»Auslesen und in Obhut nehmen?«, fragte Lucy jetzt. Nathan atmete tief durch. Bislang schien Lucy seine Ausführungen gut aufzunehmen, aber jetzt kam der heikle Teil der Enthüllung. Obwohl weit und breit niemand zu sehen war, senkte Nathan seine Stimme.
»Seit meinem achtzehnten Lebensjahr reise ich durch die Welt, auf der Suche nach den Büchern, die es verdienen, geschützt zu werden. Jeder meiner Vorfahren hat dies getan.«
Lucy taumelte zurück, doch Nathan hielt sie fest. Noch eindringlicher sprach er weiter. »Viel zu oft ist den Menschen Wissen und Weisheit vorenthalten worden. Wissen, das von den Mächtigen dieser Welt missbraucht wurde. Wir müssen das verhindern. Wir können unmöglich alle Bücher retten, aber die Besonderen nehmen wir in unsere Obhut. Wissen ist Macht und nur wenige Menschen verstehen mit dieser Macht umzugehen. Es gab Jahrhunderte, in denen die Kirche jedes Buch, das ihren Lehren widersprach, oder das ihnen nicht genehm war, in die Archive des Vatikans verbannte. Viel zu oft sind Bücher vernichtet worden und unwiederbringlich verloren gegangen.« Nathan schwieg. »Ganze Bibliotheken wurden verbrannt, weil sich Menschen dazu aufschwangen, über das Wort zu richten. Die Bibliothek von Alexander
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