Wofür du stirbst
musste, doch dieses »Ja« von Eleanor gab mir die Zuversicht, weiter dranzubleiben. Wenn ich eine Frau davon überzeugen konnte, sich mit mir zu treffen, eröffnete dies schier unendliche Möglichkeiten.
Bald war Unterrichtsbeginn, die Mensa leerte sich langsam, Stühle quietschten laut über den Kachelboden. Wir standen auf. Was sollte ich jetzt sagen? Wie konnte ich meine Botschaft noch unterstreichen?
»Danke«, sagte ich. »Bis später.«
»Klar. Bis später.«
Verdammt. Danke? Wie lahm war das denn! Nun, wir gingen in unsere jeweiligen Unterrichtsräume, und ich konnte die ganze Zeit über kaum still sitzen, schrieb auf, was ich zu ihr sagen wollte, notierte mir Themen, die dazu dienen sollten, die Unterhaltung in Fluss zu halten. Zusätzlich machte ich mir Notizen am Rand … »Beherrsche die Situation« … »Sei die Botschaft«.
Die Begegnung mit Eleanor hatte gut angefangen; an welchem Punkt sie dann allerdings kippte, ist schwer zu sagen. Ich habe mir in den Monaten danach immer wieder Gedanken darüber gemacht. Ich hatte nichts übereilt; mir genau überlegt, was ich ihr sagte und was für Konsequenzen das haben könnte. Wenn ich mich heute Abend mit ihr treffen würde, würde ich vermutlich nichts anders machen. Ich habe seitdem natürlich an meiner Technik gefeilt, habe aufgrund meiner Erfahrungen Korrekturen vorgenommen und bin bestimmt sicherer in der Anpassung meiner Aussagen geworden. Natürlich muss berücksichtigt werden, dass ich bei Eleanor nicht das gewünschte Resultat erzielte, aber nur, weil ich damals noch nicht genau wusste, wie das aussehen sollte. Ich hatte nur dieses plumpe, gierige Verlangen nach einer attraktiven Frau, die mich unwiderstehlich finden sollte, dabei war ich eigentlich zu etwas Höherem berufen.
Vielleicht wurde Eleanor mir zu diesem Zweck geschickt. Sie ließ sich mit mir ein, war aber nicht an mir interessiert. Wir kamen uns näher, küssten uns aber nicht, berührten einander auch nicht, wurden nie sexuell intim. Stattdessen verwob sie ihre Seele mit meiner und traf sich mit mir an einem viel intimeren Ort, als dies über einen physischen Kontakt jemals möglich gewesen wäre.
Ich glaube, sie hatte damals den Weg schon längst angetreten.
Ich hatte nach dem Tod meines Vaters viel Rilke und Eliot gelesen und versucht, den Prozess, den wir alle einmal durchlaufen müssen und den er früher als erwartet angetreten hatte, zu verinnerlichen und zu verstehen. Für Eliot waren Geburt und Tod das Gleiche, und diese Vorstellung hallte Nacht für Nacht in mir nach, als ich mir meinen Weg durch die Four Quartets bahnte, nach der Seele meines Vaters suchte und manchmal glaubte, doch einen kurzen Blick auf ihn zu erhaschen, auf sein Leichenhemd, das wie Rauch hinter der Tür schwebte, seinen Duft zu riechen, der wie ein warmer Luftstrom vorbeiflog.
Mein Lieblingsgedicht von Rilke war das, in dem Orpheus in die Unterwelt hinabsteigt, um seine verlorene Geliebte Eurydike zurückzufordern. Ihm wird aufgetragen, nur nach vorne zu blicken und darauf zu vertrauen, dass sie und ihr Begleiter ihm folgen; doch er kann nicht widerstehen, sieht sich um und stellt fest, dass sie sich bereits umgedreht hat – was sagte er noch gleich? ›Ihr Geschlecht war zu wie eine junge Blume gegen Abend.‹ Orpheus’ Geliebte war unerreichbar, ihre Jungfräulichkeit hatte sich durch den Tod erneuert. Sie wurzelte im Tod. Sie war erfüllt von Tod (wieder waren wie bei Eliot Geburt und Tod untrennbar miteinander verknüpft) – als ginge sie schwanger mit Anmut und Dunkelheit.
Und genau so war es auch bei Eleanor. Sie war schon zu weit fort, bereits im Tod verwurzelt, selbst als sie noch am Leben war, herumlief, redete, Tag für Tag weitermachte, aber dem Ende zueilte und nicht den Wunsch hatte, sich umzudrehen.
Ich weiß noch, wie ich mit ihr auf dem Parkplatz hinter dem Pub stand. Sie wirkte unentschlossen und verwirrt, als hätte die lange Unterhaltung mit mir ihre Sinne getrübt, sodass sie die Außenwelt gar nicht mehr richtig wahrnahm. »Ich kann dich nach Hause bringen«, sagte ich und legte meine Hand freundlich auf ihren Arm. Es war bereits dunkel, nur vom Pub fiel das Licht einer Sicherheitsleuchte herüber, die dauernd an-und wieder ausging. Ich hörte ihr zu, versuchte, mich auf ihre Gedanken einzustimmen, und hoffte, dass das Gesagte Wirkung zeigte. Sie nahm meine Anweisungen wahr, doch aus irgendeinem Grund reagierte sie nicht so, wie ich es mir erhofft hatte. Zwischen uns war
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