Wofür du stirbst
mich eilig an, ging hinunter, um Lucy zu füttern, die zufrieden und mit zu einem Fragezeichen hocherhobenen Schwanz vor mir her in die Küche trabte.
Um neun war ich bereits wieder auf dem Parkplatz des Einkaufszentrums. Der heutige Tag war viel schöner. Über mir der hellblaue Himmel, nur ein paar weiße Wölkchen zogen umher, und der nächtliche Regen hatte alles zum Glänzen gebracht. Der kleine Engel an meinem Rückspiegel glitzerte und tanzte.
Ich bemerkte nichts davon. Ich fühlte nichts, nur das instinktive Bedürfnis weiterzumachen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, eine Aufgabe nach der anderen zu erledigen, einen Tag nach dem anderen hinter mich zu bringen, bis alles irgendwie zu Ende war. Ich war plötzlich so müde. So wahnsinnig ausgelaugt.
Mein Handy klingelte genau in dem Moment, als ich meinen Wagen abschloss. Es war Andy Frost. Nach den anfänglichen Beileidsbekundungen zögerte er ein wenig.
»Ich – ich wollte nur sagen, dass Sie sich so viel Zeit nehmen können, wie Sie brauchen. Ich würde gerne mit Ihnen in Kontakt bleiben, um zu hören, wie es Ihnen geht. Falls wir irgendwas für Sie tun können …«
Ich versuchte zuzuhören, aufmerksam zu sein, musste aber immer wieder daran denken, dass ich etwas Wichtiges vorhatte und mich dieses Gespräch davon abhielt. »Ich werde bald wieder zur Arbeit kommen«, sagte ich und hoffte, ihn damit abzuwimmeln.
»Nein, Sie sollten sich wirklich eine Auszeit nehmen. Wenigstens zwei Wochen. Das läuft alles unter bezahltem Sonderurlaub wegen eines Trauerfalls, machen Sie sich da mal keine Sorgen.«
»In Ordnung«, sagte ich.
»Wirklich, Annabel«, fuhr er fort. »Wir kommen schon zurecht. Wir können Sie erst wieder brauchen, wenn Sie bereit dazu sind, vorher nicht.«
Ich biss mir auf die Lippen. Sie werden mich ersetzen, dachte ich. Einen anderen Fallanalytiker hinzuziehen, vielleicht sogar Kate. Das war mein Job! Ohne meine Tabelle hätten sie doch gar nicht gewusst, wo sie anfangen sollten. Nun, sollten sie ruhig weitermachen. Das war nicht mehr mein Problem, oder?
»Klar«, sagte ich.
»Machen Sie sich keine Sorgen. Wir beißen uns schon durch, keine Angst.«
»Sie brauchen mich nicht mehr«, sagte ich und meinte es so.
»Annabel, wir kommen schon zurecht. Ich glaube kaum, dass wir die Sache über Nacht unter Dach und Fach bringen werden – so gerne wir das auch möchten –, es wird also noch genügend Arbeit übrig sein, wenn Sie zurückkommen. Alles klar?«
Ich legte auf, und da geschah etwas Seltsames. Ich stand regungslos da und wartete ab, und nach ein paar Minuten fühlte ich mich ruhig, alle Wut und Entäuschung waren verflogen. Ich dachte noch, dass ich mich über den Anruf hätte ärgern, mir hätte Sorgen machen sollen, doch ich konnte mich bereits kaum mehr daran erinnern, was er gesagt hatte. Ich war zu müde, um mich darauf zu konzentrieren. Allein der Gedanke daran war anstrengend.
Ich hatte etwas vor. Als ich zum Einkaufszentrum und dem Bestattungsinstitut lief, spiegelte sich ein strahlender Regenbogen in den Fenstern der grauen Betongebäude. Das war wie ein Zeichen, etwas Positives, woran ich mich festhalten konnte.
Colin
Ich rief frühmorgens bei der Arbeit an und sagte, dass ich mir den Vormittag freinehmen würde. Dann ging ich wie geplant zum Einkaufszentrum, um mich mit der Neuen zu treffen. Sie war leichter zu beeinflussen, als ich gedacht hätte – fügsam, bereit –, und sie hatte sich sehr zum Besseren verändert, seit ich sie das letzte Mal am Dienstagabend im Supermarkt gesehen hatte. Ein Todesfall, natürlich. Das ist oft so. Während ich auf sie wartete, ging ich noch schnell in den Supermarkt und kaufte die Zeitung und etwas Milch.
Sie wartete vor dem Bestattungsunternehmen auf mich. Ich dachte, sie hätte einen Termin, doch den hatte sie offenbar vergessen. Das ärgerte mich, denn ich wollte noch ein wenig Zeit für mich haben, um die Zeitung zu lesen – das musste jetzt allerdings warten. Sie erzählte mir, wo sie wohnte, ich folgte ihr dorthin und ließ meinen Einkauf im Wagen. Wir unterhielten uns eine Weile in ihrer Küche. Die Katze war draußen, maunzte und kratzte an der Tür, und einen Augenblick dachte ich, sie würde aufstehen und das teuflische Tier reinlassen. Ich erzählte ihr, dass es dort nur Stille und Frieden gäbe und sie nichts mehr beunruhigen würde. Das schien Wirkung zu zeigen, denn sie ignorierte die Katze. Am Ende gab das Vieh wohl auf, denn als wir nach oben gingen,
Weitere Kostenlose Bücher