Wofür du stirbst
viele? Obwohl, es gibt bestimmt auch welche, mit denen ich nichts zu tun habe. Weder die von der Zeitung noch die Polizei werden in der Lage sein, den Unterschied zu erkennen.
Während ich mir die Bilder ansehe, denke ich an alle, die ich kannte … Was für ein herrliches Gefühl es ist, sie zurückzulassen, damit sie sich verwandeln können, diese erdverbundenen, diese ekelhaften, unappetitlichen Menschen, die zwischen einem elenden Leben und dem Tod, dem Nichts schweben! Wenn ich sie verlasse, überlasse ich sie dem Übergang, dann ist alles gut und rein; sie müssen keine Entscheidungen mehr fällen; alles folgt nur noch den Gesetzen der Natur. Ihre Verwandlung gehorcht den unumstößlichen Regeln des Zerfalls. Darin liegt eine Schönheit und Einfachheit, die es schon vor fünfhundert Jahren gab. Und so löscht die Natur, so löschen die herrlich natürlichen und unaufhaltsamen Prozesse des Lebens die Künstlichkeit unserer modernen Welt aus.
Annabel
Ich lag auf dem Bett und beobachtete die Muster, die das Licht an die Decke warf. Ich hatte das Gefühl, als hätte ich geschlafen und wäre soeben erst aufgewacht, doch ich konnte mich nicht mehr daran erinnern, dass ich aufgewacht war. Draußen schien die Sonne auf irgendwas, das sich in meinem Schlafzimmer reflektierte. Es musste Tag sein. Vielleicht sogar schon Nachmittag.
Ich sah auf die Uhr neben meinem Bett, es war 12:05 Uhr. Ich muss wohl müde gewesen sein und ein Nickerchen gemacht haben, konnte mich aber nur noch dunkel daran erinnern, wie ich nach Hause gekommen war. Ich war heute Morgen – irgendwo gewesen. Im Auto. Ich hatte den Wagen geparkt und einen Regenbogen gesehen. Daran konnte ich mich definitiv noch erinnern. Frosty hatte mich auch angerufen. Ich hatte auf dem Parkplatz mit ihm gesprochen und mir dann den Regenbogen angesehen. Und – wo bin ich dann hingegangen?
Ich habe mit irgendwem geredet. Ich weiß noch, dass ich in einem Raum sehr lange mit einer Frau gesprochen habe – aber war das gestern Abend oder heute Morgen? Draußen war es schon dunkel gewesen – also gestern Abend.
Doch das spielte ohnehin keine Rolle, nicht wahr?
Ich setzte mich im Bett auf, mir war schwindelig, und eine Welle der Übelkeit ergriff mich. Mein Magen grummelte, ich überlegte kurz, hinunterzugehen und mir etwas zu essen zu machen, doch dann hatte ich kein Verlangen danach. Das war doch alles überflüssig.
Sechs Uhr, hatte er gesagt.
Aus irgendeinem Grund dachte ich immer wieder daran. Sechs Uhr. Was würde da passieren? Etwas, woran ich mich erinnern sollte … Etwas, das ich tun sollte. Um sechs Uhr. Er hatte gesagt, ich solle mir keine Sorgen machen, ich machte mir auch keine Sorgen, doch irgendwie hatte ich das Gefühl, dass ich mich an etwas erinnern sollte, das jetzt nicht mehr da zu sein schien. Was immer es gewesen war, es war verschwunden, hatte sich wie ein Fisch zwischen Algen verflüchtigt.
Von unten drang ein vertrautes Geräusch herauf, ein lästiges, unaufhörliches Kratzen. Ein entferntes Pochen, als versuchte jemand ins Haus zu gelangen. Ein Kratzen.
Egal, was es war, es konnte warten. Es konnte bis sechs Uhr warten, denn da würde etwas passieren. Ich ignorierte das kratzende Geräusch, blendete es aus. Ich konzentrierte mich auf den Regenbogen und den Engel, meinen Engel.
Ich beobachtete die Uhr, bis es fast sechs war. Dann stand ich auf, wach und zu allem bereit, was von mir verlangt wurde. Angezogen war ich bereits, trotzdem war mir kalt. Mein Mantel hing oben an der Treppe über dem Geländer, ich zog ihn an.
Ich ging hinunter in die Küche, an der Hintertür sah ich durch die Katzenklappe die Umrisse einer Katze. Als sie mich sah, stand sie auf, kratzte an der Tür und drückte sich dagegen. Dieses Geräusch hatte ich also gehört. Ich sah auf die Katze hinunter und fragte mich, warum sie nicht durch die Klappe schlüpfte, wenn sie ins Haus wollte.
Ein Telefon klingelte. Ich folgte dem Klingeln ins andere Zimmer. Auf dem Sofa stand eine Tasche, es war meine Tasche, aus der das Klingeln kam. Ich sah auf das Handy. Auf dem Display erschien das Wort »Sicherheit«.
Ich drückte den grünen Knopf. »Hallo?«
Er sagte ein paar Dinge zu mir. Seine Stimme klang ruhig und wohltuend, obwohl ich mir weder Sorgen machte noch aufgeregt war. Ich war völlig entspannt. Ich hatte das Gefühl, auf warmen Wellen an einen sicheren, behaglichen Ort zu gleiten.
»Ich sollte etwas tun«, sagte ich.
»Vergiss nicht, das Telefon ans
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