Wofür es sich zu leben lohnt
andere Kinderkrankheiten, wenn sie bei Erwachsenen auftreten, meist schlimmer und verheerender sind als bei Kindern. Was passiert, wenn der Neid zum Antrieb politischen Handelns wird, hat Schulze mit einem drastischen Beispiel illustriert:
»Bei einer Tarifauseinandersetzung in einem englischen Flugzeugturbinenwerk ließen Arbeiter einen Teil der Lohnerhöhung fahren, um zu verhindern, dass eine rivalisierende Gruppe ihnen gleichgestellt würde.« (Schulze 2006 : 99 )
Diese politische Verblendung rührt daher, dass der Neider (wie eingangs dargestellt) »lieber selbst auf etwas verzichtet, als es dem Beneideten zu gönnen« (Schulze, ebd.). Das bedeutet, dass wir uns zu allererst vom Neid befreien müssen, um politisch zu werden. Erst ohne Neid nämlich werden wir fähig, zu kämpfen
um mögliches und verwirklichbares Glück, nicht um eingebildetes, unmögliches;
um Dinge, die wir wirklich wollen;
um Dinge, bei denen es darauf ankommt, dass wir sie haben; nicht darauf, dass der Andere sie nicht hat;
und schließlich um große, entscheidende Dinge; nicht um kleine.
Wir werden dann die Gesamtverhältnisse der Gesellschaft betrachten. Dies wird dazu führen, dass wir ganz andere Leute kritisch beäugen werden als gegenwärtig. Wir werden dann zum Beispiel darüber nachdenken, ob es wirklich sein muss, dass es Höchsteinkommen gibt, die weit mehr als das Tausendfache der Mindesteinkommen betragen. Und wir werden uns aus eben diesem Grund, anders als jetzt, nicht mehr maßlos ärgern, wenn etwa unser Kollege für die gleiche Arbeit vielleicht 20 Prozent mehr verdient als wir.
8 . Die Lektionen des Neides
Das Phänomen des Neides ist äußerst lehrreich. Es vermag auf einfache Weise sehr komplexe und mitunter paradoxe Zusammenhänge zu veranschaulichen und zu belegen – wenn nicht zu erklären.
Beim Neid geht es zunächst, wie sich deutlich zeigt, um etwas Ideelles, und nicht um etwas Materielles. Das Nichthaben des Anderen ist entscheidend, nicht das eigene Haben. Um meinen Neid vorübergehend zu besänftigen, würde es zum Beispiel genügen, dass ein gewiefter Einflüsterer mir fälschlich erzählt, das Objekt, um das ich einen Anderen beneide, wäre diesem verlorengegangen. Die bloße falsche Idee also wäre schon heilsam – wenigstens solange sie für wahr gehalten wird. Ebenso kann auch schon das bloße symbolische Inbesitznehmen des Objekts zum Verschwinden des Neides führen – wie es Beispiele aus dem Psychodrama oder auch die antike Heilung eines Ehrgeizigen durch den Stoiker Epiktet belegen. [111]
Folglich beweist der Neid, dass Menschen sehr leicht zu »Idealisten« werden können: es kann ihnen leicht passieren, dass sie etwas Ideelles etwas Materiellem vorziehen. Und diese Entscheidung erfolgt spontan, ohne Bewusstsein – nach der Marx’schen Formel »Sie wissen es nicht, aber sie tun es« (Marx [ 1867 ]: 88 ). Sie wissen nicht, dass sie spontan Idealisten sind, aber in ihrem neidigen Verhalten betätigen sie sich als solche.
Auf der Ebene ihres Wissens hingegen bleiben die Neidigen oft durchaus »Materialisten«: sie wissen – oder glauben zu wissen –, dass es ihnen nur um materielle Vorteile geht. Neidisch sein heißt folglich, eine »Ichspaltung« aufweisen (s. Freud [ 1940 e]). Das Wissen und das Tun sind auf zwei voneinander geschiedene psychische Ebenen verteilt. Die Ichspaltung wird, Freud zufolge, durch den psychischen Abwehrmechanismus der Verleugnung hervorgerufen. Auf den Neid kann darum die Formel angewandt werden, die der Psychoanalytiker Octave Mannoni für die Verleugnung gegeben hat: »Ich weiß zwar …, dennoch aber …« (s. Mannoni 1985 : 9 ff.). Im Fall des Neides könnte diese Formel zum Beispiel wie folgt aufgefüllt werden:
»Ich weiß zwar, dass ich eigentlich genau das gleiche Auto besitze wie mein Nachbar, dennoch aber beneide ich ihn und komme nicht zur Ruhe, bevor er das seine nicht mehr hat.«
Die Verteilung zwischen dem bewusst anerkannten Wissen und der verleugneten Haltung des Neides ist hier auffällig: Bewusst ist die einfache, leicht verständliche Haltung. Abgespalten hingegen ist das, was der weitaus komplexeren, auf Ideelles gerichteten Denkfigur entspricht. Wie bereits Slavoj Žižek in seiner auf Mannoni gestützten Interpretation des Marx’schen Fetisch-Begriffs gezeigt hat, können Menschen auf der Ebene ihres bewussten Wissens völlig nüchternen, materialistischen und nominalistischen Mustern von Vernunft verpflichtet sein, während sie
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