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Wofür es sich zu leben lohnt

Wofür es sich zu leben lohnt

Titel: Wofür es sich zu leben lohnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Pfaller
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auf der Ebene ihres Handelns agieren, als ob sie von den verstiegensten abstrakten Denkfiguren, von der Annahme der Realexistenz idealer Wesenheiten und »theologischen Mucken« beherrscht wären. [112]
    Auffällig an der Verteilung von bewusst anerkanntem materialistischem Bewusstsein und verleugneter idealistischer Haltung beim Neid ist weiters der Umstand, dass der Idealismus dabei auf jene Seite fällt, welche die Träger an sich selbst regelmäßig als die schwache, verachtenswerte einstufen: Der Neid ist sozusagen ein
idealistisches Laster
. Die Neidigen sind also
Idealisten aus Neigung
;
Materialisten
sind sie hingegen
aus Pflichtgefühl
 – sie fühlen sich darin dem Realitätsprinzip verpflichtet, das es verbietet, zu träumen, wenn es um wichtige Dinge geht.
    Diese Verteilung widerspricht einer geläufigen, selbst idealistischen Erwartung. Üblicherweise wird angenommen, dass die Neigung grundsätzlich materialistisch sei und dass Menschen demnach, wenn sie ihren Neigungen folgen, immer materialistisch handeln; wenn sie sich dagegen überhaupt jemals zum Idealismus erheben, dann aus Pflichtgefühl. Friedrich Engels hat treffend beschrieben, wie diese Ichspaltung üblicherweise, nach Auffassung des Philisters, aussieht:
    »Der Philister versteht unter Materialismus Fressen, Saufen, Augenlust, Fleischeslust und hoffärtiges Wesen, Geldgier, Geiz, Habsucht, Profitmacherei und Börsenschwindel, kurz alle die schmierigen Laster, denen er selbst im Stillen frönt; und unter Idealismus den Glauben an Tugend, allgemeine Menschenliebe und überhaupt die ›bessere Welt‹, womit er vor andern renommiert, woran er selbst aber höchstens glaubt, so lange er den auf seine gewohnheitsmäßigen ›materialistischen‹ Exzesse notwendig folgenden Katzenjammer oder Bankerott durchzumachen pflegt und dazu sein Lieblingslied singt: Was ist der Mensch – halb Tier, halb Engel.« (Engels [ 1886 ] MEW 21 : 282 )
    Der Philister erkennt also, Engels zufolge, durchaus eine Ichspaltung beim Menschen bzw. bei sich selbst an; aber er konzipiert diese Spaltung auf idealistische Weise: Er vermutet den »Materialismus« aufseiten der Neigung. Nach idealistischer Auffassung sind Neigungen grundsätzlich auf egoistische, sozialschädliche Ziele gerichtet; allenfalls die selten anzutreffenden »schönen Seelen« können bereits aus bloßer Neigung gut sein. Auf der anderen Seite kann das an abstrakten Ideen oder Idealen orientierte, sittlich Gute, das sozialverträgliche, der Allgemeinheit bzw. der Menschheit als ganzer dienende Handeln nach idealistischer Ansicht nur aus dem Pflichtgefühl entstehen (s. Kant [ 1788 ]: 140 ). Anders war diese Zuordnung Immanuel Kant nicht denkbar. Dass Menschen auch aus Pflichtgefühl äußerst böse handeln können – wie es zahlreiche Nationalsozialisten im 20 . Jahrhundert deutlich vorgeführt haben – vermochte im 18 . Jahrhundert alleine der diesbezüglich nüchternere – oder aber phantasievollere – Marquis de Sade sich vorzustellen. [113]
    Im Gegensatz zur idealistischen Auffassung zeigt sich am Neid, dass Menschen auch aus bloßer Neigung abstrakten, nicht-egoistischen Ideen folgen können. Und so wie ihr abstraktes Denken können sie auch ihr idealistisches Agieren vor sich selbst geheim halten. Wenn sie aus Neigung zu Idealisten werden können, dann bedeutet dies also, dass ihnen das spontan, aufgrund einer Schwäche sozusagen passieren kann, ohne dass dazu irgendeine Art von »Selbstüberwindung« notwendig wäre. Der völlig unproduktive Nicht-Egoismus des Neides, von dem das neidige Ego keinen Vorteil hat, unterläuft diesem automatisch und ungewollt. Die Unfähigkeit, materielle Objekte für sich zu beanspruchen, und der Zwang, sich stattdessen mit ideellem Besitz oder Nichtbesitz des Anderen leidenschaftlich zu quälen, entsteht genau so, wie es sich der Philister von den »materialistischen« Lastern vorstellt.
    Was für die Philosophie »Idealismus« ist, das bezeichnet die Psychoanalyse als »Narzissmus«. [114] Diese terminologische Verschiebung eröffnet einen Erkenntnisvorteil. Was der Philosophie (jedenfalls der des Philisters) als positive Fähigkeit zur gedanklichen Abstraktion und zum Absehen von unmittelbaren egoistischen Antrieben erscheinen mag, ist in den Augen der Psychoanalyse ein Gebrechen – ein Defekt an der Objektlibido: die Unfähigkeit zum Griff nach dem, wofür es sich zu leben lohnt.
    Diese Unfähigkeit ist, wie sich beim Neid zeigt, gegründet auf

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