Wofuer es sich zu sterben lohnt
durch die Haare und tröstete sich mit der Vorstellung, dass Helena in einem Jahr Abitur machen würde, und dann würde ihr Einsatz beendet sein.
Aber sie beklagte sich nicht. Hatte sich noch nie beklagt. Im Gegenteil war ihr immer bewusst gewesen, dass sie et was bekommen hatte, das nur wenigen vergönnt ist: eine zweite Chance. Sie hatte Helena bekommen.
Helena, die niemals erstaunten Lehrern hatte erklären müssen, warum ihre Eltern nicht zu Elternsprechtagen, Picknicks, Ballturnieren oder gemeinsamen Aufräumak tionen kommen konnten.
Bei Cassandra war alles so anders gewesen.
Sie hatte fast keine Erinnerungen an sich selbst als sech zehnjährige Mutter. Sie fand keinen Weg zurück zu dieser seltsamen Gefühlsmischung aus Stolz und Scham, aus Lie be und manchmal aus etwas, das an Hass erinnerte Dies hatte sie erlebt, als Cassandra klein gewesen war.
Wenn sie sich die Sechzehnjährigen von heute ansah, war es fast unmöglich zu begreifen, dass sie damals mit ih rem schwellenden Körper nicht älter gewesen war. Sie hatte sich nicht an Hüften und Brüste gewöhnen können, ehe ihr Bauch langsam, aber sicher sein eigenes Leben begonnen hatte, ganz und gar mit unvorhersagbaren Bewegungen.
Und dann war sie da gewesen. Cassandra. Cassie.
Cassandra hatte ihren einundzwanzigsten Geburtstag nicht überlebt, aber sie hatte Helena hinterlassen. Helena, problemlos adoptiert von ihrer sechsunddreißig Jahre al ten Großmutter, die ohne weiteres ihre biologische Mutter hätte sein können.
Greta räumte ihren Schreibtisch auf.
Inzwischen konnte sie an Cassie denken, ohne von Sehn sucht und Schuldgefühlen überwältigt zu werden. Sie konn te darüber staunen, wie sehr sich die Mädchen unterschie den - wo Cassandra lebhaft und offen gewesen war, war Helena still, fast ein wenig ängstlich.
In den letzten Jahren hatte Helena sich zurückgezogen. Ihre Antworten waren immer wortkarger und unklarer ge worden. Cassie hatte stundenlang über sich reden können, Helena erzählte immer weniger. Die Großmutter wusste, dass das oft vorkam, aber sie war dennoch ein wenig ent täuscht.
Und jetzt kam das Fest.
Bange Ahnungen erfüllten sie, wenn sie an diesen Abend dachte, aber sie musste sich einfinden. Jetzt, in der Ober stufe, war der Kontakt zu den anderen Eltern endlich we niger geworden, Mühsal oder Engagement hatten nachge lassen. Oder der Glaube, dass die Zusammenarbeit der El tern für das Wohlergehen der Kinder eine so große Rolle spielte.
In Helenas Klasse gab es nur eine Mutter, die noch im mer mit unverminderter Intensität über ihr einziges Kind wachte. Sie hatte an alle Eltern geschrieben. Sie hatte ihre Unruhe darüber zum Ausdruck gebracht, dass die Abitur feste immer früher einsetzten und dass sogar die zweiten Klassen - vor allem die Mädchen - daran teilnahmen und Alkohol tranken und die Nächte lang durchfeierten.
»Zu meiner Zeit …« Schon nach drei Worten hatte Greta alles sattgehabt. Sie hatte trotzdem weitergelesen, von ih rem Pflichtbewusstsein getrieben.
»Zu meiner Zeit gab es ein einziges Abiturfest. Und das fand nach dem Abitur statt und beeinträchtigte deshalb die Schularbeit nicht. Ich habe mit Rektor und Schulpsy chologin gesprochen, und beide teilen meine Ansicht, dass die Abiturfeiern zum Problem geworden sind. Sie berich ten von Schülern, die verkatert zum Unterricht erscheinen. Das ist vollkommen unakzeptabel, vor allem, wo es auch die zweiten Klassen betrifft, in denen die Schüler noch kei ne achtzehn Jahre alt sind und eigentlich überhaupt keinen Alkohol trinken dürften. Mein Gespräch mit Rektor und Schulpsychologin war eine Enttäuschung: Sie behaupten, keinen Einfluss darauf nehmen zu können, was außerhalb der Schulzeit geschieht. Sie schlagen vor, ich sollte mich direkt an die Eltern wenden, deshalb dieser Brief an alle Eltern der S II B. Ich schlage vor, dass wir für unsere Kin der ein alternatives Fest arrangieren - ein Fest mit gutem Essen, Tanz, nettem Zusammensein von Jugendlichen und Eltern, alles natürlich alkoholfrei. Wir können das gemein sam schaffen, für unsere Kinder.« Unterschrieben von Anita Jansson, Mutter, und Charlotta Jansson, Schülerin.
Sie hatte alle unterbeschäftigten Eltern verflucht. Und alle blöden Feste, auf denen die Anwesenden keine ande ren Gemeinsamkeiten hatten, als dass sie ungefähr gleich zeitig Sex gehabt hatten und ihre Kinder deshalb ungefähr im gleichen Alter waren.
Sie hoffte, dass einige Eltern aus der Klasse einen Ge
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