Wofuer es sich zu sterben lohnt
nicht vorstellen, wie irgendjemand ihn auf der Straße niederstach, um ihn dann ins Gebüsch zu schleifen. Er hatte sicher zwischen siebzig und achtzig Kilo gewogen, und die Spurensicherung hatte nichts über Schleifspuren auf dem Boden oder an seinen Kleidern berichtet. Das be deutete, dass sie nach mindestens zwei Personen suchten, wenn Tatort und Fundstätte nicht dieselben waren.
Monika fand, dass ihr Gehirn sehr viel besser funktio nierte, wenn Bosse nicht in der Nähe war.
Sie ging die wenigen Schritte bis zu der kleinen Öffnung im Gebüsch und spürte plötzlich, dass dort noch ein an derer Mensch war. Sie nahm den Schatten eines Duftes wahr, oder vielleicht auch nur einen Hauch, der noch in der Luft hing, weil dort vor ganz kurzer Zeit jemand ge gangen war.
Die Haare in ihrem Nacken sträubten sich, und ihr Herz machte eine Riesenanstrengung, die sie als Schlag in ihrer Brust wahrnahm.
Sie konnte gerade noch denken, wie ungeheuer peinlich es doch wäre, von einem zwanghaft an den Tatort zurückge kehrten Mörder niedergeschlagen zu werden, oder Schlim meres.
Dann hörte sie eine jämmerliche Stimme, die so ängst lich klang, wie Monika sich fühlte.
»Ist da jemand?«
Es war eine Mädchenstimme, eine junge Stimme. Moni ka antwortete:
»Ja. Polizei.«
Und ging ins Dickicht.
Dort saß Vivi.
Monika erkannte sie vom Klassenfoto her. Das dreieckige Gesicht, das spitze kleine Kinn, die langen blonden, glän zenden Haare, die sie aussehen ließen wie die Hauptfigur in einem Kinderbuch.
Sie saß mit angezogenen Knien da, und die Haare fielen ihr über die Schultern.
Monika stellte sich vor und setzte sich neben sie. Sie schwiegen eine Weile.
Endlich fragte Vivi:
»Wissen Sie, wo Theo ist?«
»Nicht so ganz.«
Vivi schien erleichtert zu sein.
»Hast du dir Sorgen gemacht?«
Vivi nickte.
»Du hast versucht, ihn zu erreichen, und das hat nicht geklappt?«
»Mmm.«
Monika lehnte sich zurück, setzte sich anders hin. Vivi sagte:
»Ich dachte, Sie hätten ihn vielleicht festgenommen. Und dass er sich deshalb nicht meldet.«
»Warum hätten wir das tun sollen?«
Als Vivi keine Antwort gab, fragte Monika:
»Hast du Angst, Theo könnte Juri erstochen haben?«
»Ein bisschen.«
»Aber warum meinst du das?«
»Theo war sauer auf Juri, total sauer.«
»Woher weißt du das?«
»Das habe ich gesehen.«
Und Vivi erzählte von den Schlüsseln, davon, wie Theo sie aufgehoben und wie er danach ausgesehen hatte.
Monika hörte plötzlich an ihrem Tonfall, was Vivi nicht in Worten gesagt hatte.
»Vivi?«
»Mmm.«
»Bist du verliebt in Theo?«
Und Vivi nickte, ein wenig verlegen.
»Aber trotzdem bist du mit Jonatan hergekommen?«
»Ich wollte, dass Theo mich bemerkt, statt nur Helena anzuglotzen.«
»Soll das heißen, du bist mit Jonatan hergekommen, um Theo eifersüchtig zu machen?«
Vivi nickte.
»Und hat das geklappt?«
»Nein. Er ist ja nicht gekommen. Theo, meine ich.«
»Wohin ist er nicht gekommen?«
»Er ist nicht ins Haus gekommen. Wir waren auf dem Spielplatz gewesen. Nach einer Weile sind Helena und ich dann ins Haus gegangen. Ich dachte, dass Theo nachkom men würde, das war, als ich ein bisschen mit Jonatan ge knutscht habe. Aber er ist nicht gekommen.«
»Aber er war doch später da?«
»Ja, als Jonatan und ich zurückkamen, war er da. Er sah total fertig aus.«
»Dann kann ich verstehen, dass du überlegt hast, ob viel leicht er Juri niedergestochen hat.«
Vivi schauderte zusammen.
»Wissen Sie, warum ich hergekommen bin?«
»Erzähl.«
»Um zu sehen, ob ich wirklich nicht traurig darüber bin, dass Juri tot ist. Aber das bin ich nicht. Den vermisst nie mand.«
Vivi packte ihre Knie fester und sah Monika trotzig an.
Was mochte es für ein Gefühl sein, den Jungen, in den sie verliebt war, in Verdacht zu haben, er könnte einem Schulkameraden ein Messer in den Rücken gerammt ha ben? Was mochte es für ein Gefühl gewesen sein, im Halb dunkel über die Leiche zu stolpern?
»Darf ich dir eine weitere Frage stellen zu dem, was am Freitagabend passiert ist?«
»Okay.«
»Weißt du noch, wie Juris Arme lagen?«
Wieder schauderte Vivi zusammen.
»Ja. Er hatte sie unter dem Kopf.«
»Unter dem Kopf? Bist du sicher?«
»Ja.«
Monika konnte sich das Bild nicht vorstellen.
»Kannst du es mir zeigen?«
Vivi verschränkte die Arme und lehnte die Stirn gegen ein Handgelenk.
So fällt kein gesunder Mensch.
»So kann er doch nicht gelegen haben?«
Vivi sah beleidigt
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