Wofuer es sich zu sterben lohnt
mir geht es gut … die Skelette se hen genauso aus wie bei uns zu Hause. Die Lungen eben falls, nur gibt es hier selten Tuberkulose … Die Kollegen hier sind wie ich - sie arbeiten hart … du kannst auf deine kleine Schwester stolz sein … Nein, hier finden wir auch nichts.«
Sie überflog noch zwei Briefe und urteilte:
»Dasselbe. Nur Familienkram.«
Aus dem nächsten Brief las sie einen Auszug vor:
»Mikael ist unzufrieden, er findet, ich sollte früher nach Hause kommen, um ihm Gesellschaft zu leisten. Ich finde, er sollte versuchen, sich ein eigenes Leben aufzubauen. Es ist seine eigene Schuld, wenn ihm die Tage lang werden … Theo hat neue Freunde, aber darunter ist kein einziger Ein heimischer. Er ist meistens mit einem gleichaltrigen Schwe den zusammen, der in unserem Haus wohnt …« Tigist ver drehte die Augen. »Passiert hier mal bald was, oder will ihre Schwester sich über uns lustig machen?«
»Geduld, Tigist, Geduld.«
Tigist kicherte, nahm den nächsten Brief und las:
»Mikael sieht fern, trinkt Bier und klagt darüber, dass die Wohnung nicht aufgeräumt ist (ist sie auch nicht). Neulich abends war er unzufrieden mit dem Essen (zu spät, nicht gut genug). Ich schlug vor, er könne ja selbst kochen, wenn ihm das nicht passte. Er schlug mich, nicht sehr hart, aber doch spürbar. Ich habe Angst davor, was dieses Land hier aus ihm macht - aber uns bleibt nur noch ein Jahr, so lan ge muss ich eben durchhalten … Mikael findet es beängs tigend, die Sonne sehen, aber nicht spüren zu können …« Tigist schaute Monika fragend an. »Stimmt das? Spürt man die Sonne bei euch nicht?«
Monika antwortete, sicher spüre man sie, sicher wärme sie, wenn auch nicht so sehr wie in Addis.
Der nächste Brief stand auf einer aus einem Notizblock herausgerissenen Seite.
»… und ich kam spät nach Hause, es war sicher gegen acht oder so. Ich war schrecklich müde. Als ich die Woh nung betrat, stank sie wie eine Kneipe … wie eine verrauch te, verdreckte Kneipe … du wirst es nicht glauben … habe Mikael niedergeschlagen …«
Tigist unterbrach sich.
»Jetzt sieht es schon eher nach etwas aus! … du wirst es nicht glauben, aber plötzlich hatte ich Mikael mit einem brüchigen alten Schneidebrett auf den Kopf geschlagen. Hart, aus Leibeskräften. Wenn ich etwas Härteres erwischt hätte, hätte ich ihn vielleicht umgebracht. Ich wollte das nicht, es passierte einfach. Mir zittern noch immer die Hän de, wenn ich daran denke - ich hatte keine Kontrolle darü ber, was ich tat, kannst du dir vorstellen, wie beängstigend das ist? Und es kam noch schlimmer. Es war wie eine Sze ne aus einem schlechten Film, wir haben uns geprügelt wie die Straßenbengel. Und jetzt kommt das wirklich Entsetzli che. Theo musste natürlich gerade in diesem Moment nach Hause kommen. Er sieht jede Menge Blut, versucht, Mika el von mir wegzuziehen, schafft es aber nicht, und dann schnappt das arme Kind sich ein Messer, weiß Gott, was er damit machen wollte. Jedenfalls sprang Mikael auf und versuchte, ihm das Messer zu entreißen. Theo ließ nicht los, und bei diesem ungeschickten Handgemenge hatte das Messer plötzlich Theos Unterarm aufgeschlitzt.«
Tigist verstummte und ließ den Brief auf ihre Knie sin ken.
Monika gingen die Gedanken so rasch durch den Kopf, dass sie miteinander kollidierten. Theo. Messer. Hätte ihn umbringen können.
Tigist ballte die Faust und tippte sich dann damit an den Kopf. Diese Geste hatte Monika schon ihr Leben lang gesehen - man zeigt, dass etwas unsinnig ist, dass man nicht nachgedacht hat. Hier gab es jedenfalls keinen Kul turschock.
Tigist sagte langsam: »Ich bin Polizistin. Ich weiß, dass auch die Schönen und Reichen Probleme haben. Und doch habe ich bei meinem Gespräch mit Mariam gedacht, dass hier eine erfolgreiche Frau sitzt, die keine Probleme kennt.«
Sie schüttelte den Kopf über so viel Naivität.
»Vielleicht sind die Erfolgreichen nur besser in der Prob lemlösung«, schlug Monika vor.
Monikas innere Bilder von Mariam und Theo wollten keine Gestalt annehmen. Mariam als stumme Zuwanderer mutter, die für eine kommunale Wohnungsgenossenschaft putzen ging. Mariam als erfolgreiche Röntgenärztin. Ma riam als verwöhnte und willensstarke kleine Schwester. Ma riam, die sich Sorgen um ihren Sohn machte. Mariam, die fast ihren Mann umgebracht hätte. Theo, der in der Schule schweigsam und brav war. Theo, der zu einem Messer ge griffen hatte - einem Küchenmesser -, aus
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