Wofuer es sich zu sterben lohnt
Ihr rundes Gesicht hatte sicher schon früher so ausgesehen, wenn sie wegen eines Verstoßes gegen die Schulordnung zum Rektor kommen musste.
Aber Tigist sagte nichts über Unterschlagung von Beweis material, nichts über Strafe und Verpflichtungen und Bei hilfe zur Flucht oder schlimmeren Dingen. Sie sagte nur behutsam:
»Erzählen Sie von Theo.«
Halleluja wirkte jetzt entspannter. Ihre Sünden waren ihr vergeben worden. Jedenfalls sollte sie dafür offenbar nicht zur Verantwortung gezogen werden. Nicht für die ge heim gehaltenen Briefe, nicht für die Sache mit den Päs sen. Und es war Inspektor Tigist, die die schwere Last von ihren Schultern genommen hatte. Jetzt war sie bereit, alles zu erzählen.
Wider ihren Willen war Monika beeindruckt.
Hallelujas Geschichte war schnell erzählt. Am Vortag, dem Montag, war sie wie jeden Tag um vier Uhr vormit tags zur Nachbarin gegangen, um Kaffee zu trinken. Mo nika übersetzte diese Zeitangabe mit zehn Uhr. Plötzlich hatte Theo neben ihr gestanden, größer als bei ihrer letzten Begegnung und ihrem eigenen Sohn auffallend ähnlich. Zuerst hatte sie Angst gehabt, aber er hatte erklärt, er sei mit dem Flugzeug gekommen, es gehe ihm und Mariam gut, er müsse in ihr ehemaliges Haus. Er hatte sich Hallelujas Za bagna gegenüber nicht zu erkennen geben wollen und hat te deshalb draußen gewartet. Er wollte wissen, wann sein Onkel arbeitete und ob Halleluja die Hausschlüssel habe. Die hatte sie. Sie war ins Haus gegangen, hatte die Schlüssel geholt und ihren Bruder in seinem Büro in der Bole Road angerufen, auf der anderen Seite der Stadt. Sie hatte Theo die Schlüssel gegeben und sich danach solche Sorgen ge macht, dass sie nicht schlafen konnte. Seither hatte sie ihn nicht wiedergesehen und nichts von ihm gehört.
Hatte Theo gesagt, was er im Haus wolle? Das hatte er nicht. Hatte er sonst etwas gesagt, das ihnen weiterhelfen könne? Nichts. Hatte er etwas bei sich gehabt, wie war er gekleidet gewesen? In Jeans und Pullover, schwarzer Ruck sack.
Halleluja sah einige Zentimeter größer aus, als sie gingen. Die Polizei als Seelsorger, dachte Monika. Vergebung der Sünden. Die Polizei als Chirurg - jetzt entfernen wir die ses kleine schlechte Gewissen, damit du in Zukunft keine Probleme mehr damit hast.
Im Auto kniff Tigist für einen Moment die Augen zu sammen.
»Was hältst du von einer kleinen Pause, ehe wir zu Mari ams Haus fahren? Um unsere Gedanken zu sammeln.«
Monika nickte dankbar. Sie waren Theo auf der Spur, aber sie hatte das Gefühl, durch die Dunkelheit zu jagen und dauernd auf unvorhergesehene Hindernisse stoßen zu können.
Sie hielten vor einem kleinen Café, in dem Monika wie gewöhnlich einen Macchiato verlangte. Tigist bestellte Avo cadosaft. Avocadosaft? Monika glaubte, sich verhört zu ha ben. Doch Tigist bekam wirklich ein hohes Glas mit einem dicken grünen Saft. Seltsam.
Aber jetzt mussten sie sich konzentrieren. Sie schauten einander an wie zwei Schiffbrüchige, die zusammen auf einem kleinen Floß gelandet sind. Die Lage war ernst, sie würden sich aufeinander verlassen müssen, obwohl keine von beiden wusste, was die andere konnte oder wagte.
Sie hatten immerhin endlich eine richtige Spur gefun den. Theo hielt sich in Addis Abeba auf, und sie wussten, wohin er vor nur vierundzwanzig Stunden unterwegs gewe sen war. Sein Vorsprung würde sich aufholen lassen, Stun de um Stunde, bis sie ihn gefunden hatten.
»Jetzt haben wir ihn!« Tigist schlug sich mit der Faust ge gen die Handfläche. »Jetzt wird endlich Ordnung in diesen verdammten Fall kommen. Und wenn wir da sind, werden wir um eine Probe von Mariams Handschrift bitten.«
»Hältst du diese Briefe nicht für authentisch?«
»Alle Welt könnte die doch geschrieben haben. Halleluja zum Beispiel. Oder Mariam hat sie geschrieben, aber nicht um ihrer Schwester ihr Herz auszuschütten, sondern um das zu verbergen, was wirklich geschehen ist.«
Monika, die noch immer unter dem Eindruck der Briefe stand, protestierte.
»Warum bist du so misstrauisch?«
»Weil sie so authentisch wirken. Weil sie angeblich be richten, was passiert ist. Das macht mich immer nervös. Ihre Bilder beeinflussen unser Denken. Jetzt plötzlich se hen wir Mariam als Frau, die ihre Taten nicht immer unter Kontrolle hat und Salomon stoppen musste, eine Frau, die zu einem Mord in der Lage wäre.«
»Wir sind doch alle Frauen, die zu einem Mord fähig wä ren. Sie sagt ja außerdem nicht offen, dass sie ihn
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