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Wofür stehst Du?

Wofür stehst Du?

Titel: Wofür stehst Du? Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giovanni di Lorenzo Axel Hacke
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man einen Gang einlegt, dann abstieg und sagte, er werde mit dem anderen Traktor jetzt aufs Feld hinausfahren, ich solle ihm einfach hinterherkommen.
    Ich durfte allein den Traktor fahren. Es war die Erfüllung aller meiner Träume. Dass er mich das tun ließ!
    Sie waren großartig, diese Wochen und dieses wunderbare Gefühl von Freiheit und Zutrauen und von einer Gemeinschaft mit anderen Kindern, in der man sich seinen Platz erarbeiten und erobern musste, in einer Zeit, in der man auch damit zurechtkam, dass sich niemand mit einem beschäftigte und dass manche Nachmittage nach der Schule und ganze Ferientage vor einem lagen wie ein großes, weites, leeres Feld.
    Übrigens können andere Erziehungsmethoden mindestens genauso verheerende Schäden hinterlassen wie Schläge. Die Einblicke in manche Familien, die sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren den Aufenthalt ihrer Kinder an der Odenwaldschule leisten konnten, wirken oft wie eine Expedition in eine emotionale Antarktis. Es waren Eltern, die zum Teil zur Elite dieses Landes gehören und ihre Kinder, mit denen sie kaum oder gar nicht zurechtkamen, regelrecht ins Internat abschoben. Wenn diese Kinder dort missbraucht wurden oder miterlebten, wie Mitschüler missbraucht wurden, dann taten sie einen Teufel, sich zu Hause auszusprechen. Dazu fehlten Vertrauen und Nähe.
    Und heute, da der Missbrauch vielfach öffentlich geworden ist und auch von niemandem mehrbestritten wird? Da ruft der Vater eines Odenwaldschülers seinen Sohn an, den ich seit vielen Jahren kenne, und fragt ihn: »Junge, bist du angefasst worden?« Und als der Sohn, der in diesen Wochen ganz besonders erschüttert ist, das verneint, sagt der Vater: »Siehst du, ein richtiger Mann lässt sich auch nicht anfassen. Als ich im Internat war, hat sich das auch keiner getraut.« Und ich weiß von einem Jungen, der an der Odenwaldschule missbraucht worden ist und seiner Mutter schrieb, ob sie denn jetzt ermessen könne, wie er und andere damals gelitten hätten. Die Mutter antwortete ebenfalls schriftlich, wenn er sich habe anfassen lassen, dann habe das wohl auch seine Richtigkeit gehabt.
    (Und noch eins weiß ich von einem ehemaligen Schüler: An die Kinder der ganz prominenten Eltern trauten sich der Schulleiter Gerold Becker und andere Lehrer offenbar nicht heran. So viel Kontrolle war dann doch möglich – »pädagogischer Eros« hin oder her.)
    In Rimini besuchte ich eine Grundschule, an der Kinder aus allen sozialen Schichten waren. Die Bessersituierten, zu denen auch ich gehörte, wurden von den Lehrern fast nie bestraft, an diese Ungerechtigkeit erinnere ich mich ganz genau. Wir waren auch schwerer angreifbar, weil unsere Leistungen in der Regel besser waren, aber natürlich kannten die Lehrer in der Provinzstadt auch die Honoratioren gut und suchten ihre Nähe.
    Als ich meine Erste Kommunion feierte, gehörte auch Herr Gelasio, mein Klassenlehrer, zu den Gästen.Er war, obwohl kein Sohn der Romagna, ein Choleriker vor dem Herrn. Es kam vor, dass er mit den korrigierten Klassenarbeiten wortlos den Raum betrat, das Gesicht rot angelaufen, ein leises, bedrohliches Pfeifen auf den Lippen. Als Erstes machte er das Fenster auf, dann rief er die Schüler einzeln nach vorne. Wenn eine Klassenarbeit Gnade gefunden hatte, gab er das Heft zurück. Wenn nicht, bot Herr Gelasio ein einzigartiges Spektakel: Er nahm das Heft in die Hand, wedelte damit vor dem Gesicht des Schülers herum – und ließ es in weitem Bogen aus dem Fenster fliegen, wobei er den alten Gassenhauer von Domenico Modugno anstimmte: »Volare!« Nach der Unterrichtsstunde musste der in Ungnade gefallene Schüler sein Heft vom Schulhof klauben.
    Ich erinnere mich an das ängstliche Gesicht eines schmächtigen Mitschülers, von dem ich meine, dass er Gelsomino hieß, ein äußerst seltener Jungenname, zu Deutsch »Jasmin«. In unserer Klasse war er auch deshalb ein Exot, weil er, genau wie ich, eine deutsche Mutter hatte. Aber entweder sprach er darüber nie, oder seine Mutter war schon viel länger in Rimini als meine, denn wenn in der Klasse von i tedeschini die Rede war, waren immer nur mein Bruder und ich gemeint.
    Dieser Gelsomino erteilte mir eine Lektion, die ich nie vergessen werde. Obwohl ich ihn nie besonders beachtet hatte, lud er mich eines Tages zu sich nach Hause ein. Ich sammelte, wie alle in meiner Klasse,Panini-Sportbilder; wir tauschten sie in fast jeder Pause. Gelsomino hatte in seinem Zimmer eine imposante Sammlung, die

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