Wofuer wir kaempfen
Situation hat es wie aus Eimern geschüttet. Die ganzen nächsten Tage sollte es regnen. Wie in einem alten französischen Detektivfilm. Auf der Fahrt hat mir der Feldjäger, der mein Auto steuerte, erzählt, dass sie mich lange gesucht haben. Dass sie nicht wussten, wo ich arbeite und alle möglichen Leute in Murnau angerufen hätten, ob diese wüssten, wo ich mich aufhalte. Und mir wurde klar, wer da als Paketdienst nach meiner Adresse gefragt hatte. Auf der Autobahn Richtung Murnau überholten wir Wohnmobile, die Richtung Italien unterwegs waren, immer der Sonne nach. Freizeit. Tiefer Frieden. Ich sah nach draußen auf die schnell vorüberhuschenden Bäume und Wiesen. Die schöne Landschaft flog dahin. Wiesen mit grasenden Kühen. Die schönen, sauberen Bauernhäuser. Abends würden die Familien im Schein der Lampe gemeinsam am Tisch sitzen und Abendbrot essen, sich erzählen, was sie den Tag über erlebt hatten. In diesen Gesprächen würde es nicht um Bomben, Tod und Vernichtung gehen, sondern um die ganz banalen Alltagsprobleme. Die Fünf in Mathe. Die nicht bezahlte Rechnung. Die ungerechten Milchpreise
und das Auto, das wieder in die Werkstatt muss. Wie beneidete ich diese Menschen in jenem Augenblick um ihre Alltagsprobleme, die mir so unbedeutend erschienen. Ich dachte an die Worte von Verteidigungsminister Struck, dass diese Freiheit auch am Hindukusch verteidigt werde, und ich fragte mich, ob die Menschen diesen Frieden überhaupt noch spürten und ob er es ihnen wert wäre, dafür das Leben oder die Gesundheit zu verlieren.
Als wir zu Hause ankamen, stand da schon Mario – unser bester Freund und ein Feldjäger wie Tino. Er war quasi abkommandiert worden, um mich in dieser schwierigen Situation nicht allein zu lassen. Ich schloss die Tür auf und vom oberen Treppenabsatz schaute mein Kater Zwerg starr auf uns herab und begrüßte uns mit klagendem Miauen. Das hatte er noch nie gemacht – Kater Zwerg konnte mit Mario nichts anfangen und verzog sich sonst immer auf seinen Schlafbaum. Es war das erste Mal, dass Zwerg sich neben Mario setzte und sich sogar streicheln ließ. Ich bin mir heute sicher, dass Tiere spüren, wenn etwas nicht gut läuft bei uns Menschen. Und vielleicht war das die Art von Zwerg, seine Anteilnahme zu zeigen.
Abends kommt Heike in Murnau an. Wir liegen uns erst einmal wortlos in den Armen. Bei einer Tasse Kaffee beraten wir, wie es jetzt weitergehen soll. In Murnau können wir nichts ausrichten. Heikes Freund ist Leutnant im Koblenzer Bataillon für Operative Information 950 und Experte für psychologische Kriegsführung. Immer wieder versucht er über seine Verbindungen zu den Stäben etwas Genaueres über Tinos Schicksal herauszufinden – aber ohne Erfolg. Sechs Stunden nach dem Anschlag wissen wir immer noch nicht, in welchem Zustand sich Tino wirklich befindet. Wir versuchen, aus den Nachrichten und dem Internet mehr zu erfahren – vergeblich. Nachrichtensperre. Spätabends dann der Anruf, dass uns
die Feldjäger am nächsten Morgen nach Koblenz fahren. Wie es aussieht, werden die zwei Verletzten ausgeflogen. Aber es sei noch nicht sicher, ob die beiden transportfähig sein werden und ob Sandstürme den Abflug verzögern. Man müsse den Morgen abwarten.
Um 22 Uhr habe ich zu Mario und den anderen gesagt: »Kommt, wir versuchen jetzt alle mal zu schlafen und zur Ruhe zu kommen.« An Schlaf war natürlich nicht zu denken. Du liegst im Bett und drehst dich von rechts nach links, dann stehst du wieder auf und schaust im Internet und im Fernsehen, ob es neue Meldungen gibt. Vergeblich. Warten, warten, warten.
Dienstag in der Früh bringt Mario frische Brezen fürs Frühstück. Wir trinken alle erst mal einen heißen Kaffee. Um 8 Uhr 30 endlich der erlösende Anruf: Tino und Stefan seien nach Sonnenaufgang über den Hindukusch nach Termez geflogen worden, und in diesem Moment würde man sie für den Flug mit dem MedEvac, dem Medizinischen Evakuierungsteam, nach Deutschland vorbereiten. Man wisse aber nicht sicher, ob der Airbus starten könne.
Wir beschlossen trotzdem, sofort nach Koblenz aufzubrechen – um mit dem Auto etwa zur gleichen Zeit einzutreffen wie Tino und Stefan mit dem Flugzeug.
Heike meldete sich in der Arbeit ab und machte dieselben Erfahrungen wie ich mit den Kollegen, als sie hörten, dass ein Angehöriger in Afghanistan schwer verwundet worden ist: Sie erfuhr große Anteilnahme und einfühlsame Unterstützung. Heike bemerkte eine Betroffenheit, wie sie
Weitere Kostenlose Bücher