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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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die Adern durchtrennt, Teile des Unterschenkelmuskels sind weggerissen. Der Fuß droht mangels Durchblutung abzusterben und zusätzlich blutet Tino aus zahllosen Splitterwunden.
    Die Ärzte beraten, ob sie sofort amputieren sollen – entschließen sich trotz der großen Infektionsgefahr für den Versuch, den Unterschenkel zu retten. Wenn sich die Durchblutung in den kommenden Stunden verbessern ließe, hätte Tino eventuell noch eine Chance, sein Bein zu behalten. Inzwischen haben die Ärzte Tino und Stefan in ein künstliches Koma versetzt, vor allem, um ihnen die unglaublichen Schmerzen und den Schock über das Erlebte zu ersparen.
     
    Explosionsverletzungen haben körperlich wie psychisch katastrophale Folgen für die Opfer. Die Druckwelle in den ersten Millisekunden nach der Explosion hat das größte Tötungspotenzial. Lunge, Magen-Darm-Trakt und die Hörorgane sind am stärksten gefährdet, weil diese Hohlräume im Körper mit Luft gefüllt sind. Der massive Druckunterschied im Augenblick der Explosion lässt diese Luftblasen anschwellen und bersten. Lungenbläschen platzen wie Seifenblasen.
    Weitere Verletzungen entstehen durch jede Art von Splittern und Teilchen, die sich wie Hochgeschwindigkeitsgeschosse in den menschlichen Körper bohren. Selbst Kieselsteinchen oder Sandkörner werden in der Druckwelle zum tödlichen Projektil – auch Zähne von Selbstmordattentätern hat man schon tief aus den Körpern von Anschlagsopfern operiert. Solche Verletzungen
sind besonders heimtückisch, weil der eindringende Splitter auf der Hautoberfläche nur eine unscheinbare Eintrittsöffnung hinterlässt, sich im Körper aber wie ein Dumdumgeschoss dreht und weiterwühlt und dabei verheerende Mengen von Gewebe, Nerven oder Blutgefäße und die inneren Organe zerreißen kann. Das Opfer verblutet innerlich, wenn Ärzte diese Wunden übersehen. Dazu kommen – durch herumfliegende größere Trümmerstücke – Brüche an Armen und Beinen, auch im Beckenbereich oder am Kopf. Ganze Gliedmaßen können abgeschlagen werden. Wenn das Opfer durch die Luft geschleudert wird, können beim Aufprall weitere Brüche und Verletzungen auftreten. Schließlich gibt es noch hochgradige Hautverletzungen durch die thermische Wirkung der Explosion, durch Feuer und entzündete Brennflüssigkeiten wie Benzin und anderes.
    In einem handelsüblichen Silvesterkracher sind etwa drei Gramm Schwarzpulver – und doch können sie bei fahrlässigem Umgang schon Finger und Hände zerfetzen. Die Bombe im Auto des Attentäters hatte eine Sprengwirkung von zwölf Kilogramm TNT, die 4000-fache Sprengkraft eines Chinaböllers, und Stefan steht weniger als drei Meter entfernt, als der Attentäter die Bombe zündet.
    Die Druckwelle arbeitet sich durch die Karosserie und die Scheiben des Autos, sie atomisiert die Kühlerhaube, den Motorblock, sie reißt das Glas als Splitter mit. Das geschieht in Millisekunden. Die mit Splittern durchsetzte Druckwelle wirkt wie eine Ladung Schrot – Tinos und Stefans Körper werden an den ungeschützten Stellen regelrecht perforiert durch Glas, Metallteile, Karosseriesplitter, Steine, Sand und Schrapnelle, weil die Bombe mit Nägeln oder Kugellagern versetzt war, um den Schädigungsgrad zu erhöhen.
    Die Ärzte suchen die Körper von Tino und Stefan sorgsam nach kleinsten Verletzungen ab. Man kann nur die größeren
Splitter entfernen und nie alle, weil viele zu dicht an Blutgefäßen oder lebenswichtigen Organen liegen und eine Operation zu gefährlich wäre. Menschen mit Splittern im Körper müssen ihr Leben lang ärztlich überwacht werden, weil die Splitter wandern und noch Jahre nach dem Anschlag tödlich wirken können. Wenn man sich Röntgenbilder von Tinos Beinen anschaut, sehen sie aus wie ein Sternenhimmel: 20 bis 30 Splitter sind deutlich zu erkennen. Tino und Stefan müssen noch heute regelmäßig zum Röntgen, um die Wanderung der Splitter zu kontrollieren, die sie in ihren Körpern tragen – ein Stück Afghanistan; Staub und Karosserieteile aus dem Auto des Attentäters auf ewig vereint mit ihren Körpern.
    Zusätzlich bedeuten diese Wunden eine enorme Infektionsgefahr. Jeder dieser Splitter kann Infektionen und Blutvergiftungen auslösen. Dazu kommt der ärgste Feind jeder Behandlung: In Afghanistan gibt es zahlreiche multiresistente Keime, die auf kein Antibiotikum reagieren und den sicheren Tod für den schon geschwächten Verletzten bedeuten. Kaum zu entfernen und ebenso gefährlich sind die im

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