Wofuer wir kaempfen
sie noch oft erleben wird, wenn sie Menschen von Tinos Geschichte erzählt. Es ist die unvermittelte, direkte Konfrontation mit den Opfern dieses Krieges. Die Auslandseinsätze der Bundeswehr hat jeder immer weit von sich weggeschoben. In den Nachrichten waren sie so gut wie nie Thema. Reportagen oder Hintergrundberichte über die Arbeit der Bundeswehr in Afghanistan
oder gar Bilder von Toten und Verletzten gab es nicht. Selbst bei dem großen Anschlag auf den Bus im Juni hat man nie etwas von den Angehörigen gesehen oder gehört. Es hieß immer nur: »Anschlag, Tote, der Kampf geht weiter.« Dieser Konflikt sollte unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden. Doch jetzt kommen immer mehr Särge und Verwundete zurück nach Deutschland, immer mehr Familien sind betroffen und erleben schmerzhaft die Auswirkungen dieses Konflikts. Heike ist wütend und hilflos wie wir alle. Sie weint und brüllt gleichzeitig ihre Wut heraus: »Warum Tino? Wieso er?« Ihr kommen ganz einfache Gedanken: Ob es das wert ist, zu sterben für dieses Land und die Menschen dort. Dass dort Krieg ist, wollte niemand bis dahin so recht wahrhaben. Wegschauen kann Heike heute nicht mehr. Wenn wieder Nachrichten kommen von Anschlägen und Opfern, dann ist alles wieder da, damals, als es losging mit Tino.
Blast Injury – Die Welle der Vernichtung
Militär- und Notfallmediziner sagen, die einzige Möglichkeit, eine Explosion zu überleben ist, dass man nicht sofort daran stirbt. Klingt banal – aber es ist die reine Wahrheit, denn nichts wirkt so massiv auf den menschlichen Körper ein wie eine Explosion und die daraus folgende Druckwelle – der sogenannte Blast. Die Überlebensrate nahe dem Zentrum einer großen Explosion geht gegen null – wer nicht gleich hier stirbt, muss mit massiven Verletzungen rechnen, den sogenannten Blast Injuries. In Deutschland sind kurz nach dem Anschlag an diesem Montag auch die Ärzte des MedEvac über den Notfallcode »Blaulicht Charlie« alarmiert worden. Der Notruf setzt auch in Deutschland eine Rettungskette in Gang, die jeden im Einsatz verletzten Bundeswehrsoldaten in ein sicheres Krankenhaus zurückbringen soll – egal wo auf der Welt er Dienst tut. Der
leitende Notarzt und Anästhesist, Oberfeldarzt Dr. Schaefer, ist einer der Experten in Deutschland für Notfalleinsätze und Blast Injuries. Er und sein Team werden bei der Rettung von Stefan und Tino eine zentrale Rolle spielen.
Er hat mir später erläutert, wie sich die gesundheitliche Lage der beiden kurz nach der Explosion darstellte: »Ihr Leben hing an einem seidenen Faden. Tino war vom amerikanischen Stützpunkt mit einem Sanitätsfahrzeug in das deutsche Feldlazarett im Camp Warehouse geflogen worden, wohin Stefan schon direkt nach der Explosion eingeliefert worden war. Die Blutungen hatten die Ärzte zwar stoppen können, aber vor allem Stefan schwebte durch den massiven Blutverlust noch immer in Lebensgefahr. Zwei Operationsteams machten sich sofort an die Arbeit, das wenige noch vorhandene Leben im Körper zu halten. Die Explosion hatte Stefans Körper furchtbar gezeichnet. Als die Bombe zündete, stand er im Explosionsschatten der gepanzerten Tür des Wolf. Kopf, Arme, Hände und Oberkörper waren geschützt – doch wegen des hohen Radstands des Geländefahrzeugs endet die Tür knapp unterhalb von Stefans Hüfte. Die Explosion riss ein Bein sofort komplett ab, das andere hing nur noch mit ein paar Hautlappen verbunden an dem völlig zersplitterten Oberschenkelknochen. Fast alle Nerven waren durchtrennt, alle Beinmuskeln, Venen und Arterien zerrissen. In diesem Fall war nichts mehr reimplantierbar – auch Stefans zweites Bein war rettungslos verloren –, die Ärzte mussten amputieren. Dazu kam der enorme Blutverlust durch die Durchtrennung der Hauptarterien im Bein und die große Fläche der Verletzungen. Als die erstversorgenden Soldaten Stefan Deuschl die Beinstümpfe abbanden, um die Blutungen zu stoppen, ging es sprichwörtlich um Sekunden. Es konnte sich kein Blutdruck mehr aufbauen, weil jeder Gegendruck in den Adern fehlt – das Herz pumpte mit jedem Schlag seine letzten Blutstropfen durch die zerrissenen
Hauptschlagadern in den Sand der Straßen von Kabul. Er war schon grauweiß im Gesicht, seine Lippen blau. Ohne Blutkonserven wäre Stefan Deuschl Minuten später gestorben. Als er im Camp Warehouse eingeliefert wurde, war er bereits klinisch tot.«
Auch Tino ist schwer verletzt: Offener Splitterbruch am rechten Unterschenkel,
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