Wofuer wir kaempfen
wieder der Anlass, alle bekannten Details nochmals zu drehen und zu wenden und sich Hoffnung zu machen, dass am Ende alles nicht so schlimm kommt. Die Stimmung im Auto war wie auf dem Weg zu einer Trauerfeier. Wir waren trotzdem alle bemüht, nicht die Fassung zu verlieren und Optimismus auszustrahlen. Die Kinder von Stefan sollten möglichst wenig von den Sorgen der Erwachsenen mitbekommen. Das war für uns das Wichtigste. Wir wussten immer noch nicht sicher, ob der MedEvac überhaupt gestartet war. Termez ist ein technisch sehr einfach ausgestatteter Flughafen ohne elektronische Flugleitsysteme wie in Deutschland – bei niedriger Wolkendecke oder Sandstürmen geht da gar nichts mehr. Der Abflug des Airbus aber würde für uns
die wichtigste Nachricht sein, eine Nachricht, die Hoffnung versprach. Ich hatte noch die Worte des Kommandeurs vom Vortag im Kopf: ›Wenn sie die Nacht überstehen und der MedEvac am nächsten Tag fliegt, dann sind sie aus medizinischer Sicht zumindest schon mal verlegefähig, und dann haben sie in einem deutschen Krankenhaus auch eine reelle Chance zu überleben. Fliegt der Airbus nicht, dann wissen wir, dass sie die Nacht nicht überstanden haben.‹
Für mich war das der größte Horror: Mit den Familien nach Koblenz zu fahren und ihnen dann sagen zu müssen, dass der MedEvac nicht mehr fliegen wird für ihre beiden Männer. Also haben wir versucht, jede weitere Information, die eventuell vergebliche Hoffnungen auslöst, zu vermeiden. Das war mit das Schwerste: schweigen zu müssen.«
Wir alle hängen auf dieser Fahrt unseren Gedanken über das Leben nach – was war, was bleibt und was werden soll. Erinnerungen, Bilder, Gefühle mischen sich mit Wortfetzen aus Gesprächen, formen sich zu neuen Bildern und Ansichten. Mancher Streit, viele Sorgen erscheinen plötzlich kleinlich angesichts der Tatsache, dass der Tod nun so nahe ist. Es ist dieselbe Stimmung, die man manchmal auf einer Beerdigung hat – die Trauer wirft einen zurück auf die eigene Sinnsuche. Haben wir noch eine Chance, unsere Männer wieder zurückzubekommen, so, wie wir sie verabschiedet haben in dieses fremde Land, werden wir sie wiedererkennen – werden sie uns wiedererkennen können? Wie viel wird noch da sein von den Menschen, die wir kannten? Die ganze Fahrt über dauert der Regen an. Keine Sonne. Novembergrau. In der Nähe von Koblenz kommt dichter Nebel hinzu. Und genauso unklar wie das Wetter ist über 30 Stunden nach dem Anschlag immer noch Tinos und Stefans Schicksal.
Für mich ist die ganze Situation noch immer so unwirklich wie
im Film, nicht mein reales Leben – meine Gefühle haben das, was passiert ist, noch nicht angenommen. Ich sehe Tino vor mir in seinem engen Neoprenanzug beim Surfen auf Rügen. Stark, unverwundbar. Sein Lächeln, seine Präsenz – ich kann ihn mir einfach nicht hilflos auf einer Krankenliege vorstellen. Ich weigere mich, so zu denken, bevor ich es gesehen habe – immer noch von der Hoffnung getragen, am Ende wird sich alles als Irrtum herausstellen und Tino ist gar nicht der Mensch im MedEvac. Ich träume, wie er abends anruft und sagt, ich war doch gar nicht in Kabul, sondern auf Patrouille in Kunduz. Ich bin ein Mensch, der etwas sehen muss, um es zu begreifen. So ziehen die Stunden auf der Autobahn dahin. Tanken. Eine kurze Rast. Regen. Und weiter. Ich bin den Männern dankbar, weil sie mich in Ruhe, aber nicht alleine lassen auf dieser Fahrt, die mich zu Tino bringen soll. Im Auto wird kaum gesprochen. In unser aller Gedanken aber liegen Bitten für den geliebten Menschen, liegt immer wieder Hoffnung, dass man sich mit allen Ängsten täuschen möge und am Ende alles gut wird. Alle sind bei ihm, sprechen mit dem Unsichtbaren, versuchen ihn stark zu machen, den Mut zu geben, alles durchzustehen – Tino, Stefan, ihr dürft nicht sterben.
Aus Chemnitz ist ein dritter Bus unterwegs mit den Eltern von Tino. Meine Gedanken gehen in die Vergangenheit, ein schöner Film der Erinnerungen im Takt des Scheibenwischers und des Regens, der gegen die Frontscheibe schlägt. Es ist wieder Sommer. Das Seminar in Rothenburg an der Fulda, wie Tino sich im Seminarraum umdreht und mich das erste Mal anschaut mit diesem verwunderten Gesichtsausdruck. Die ersten Umarmungen oben am Eibsee. Moritzburg. Schwimmen in den Seen, wandern zu den glücklichen Plätzen meiner Kindheit. Soll das alles schon zu Ende sein? Und dann kommen sie plötzlich wieder, meine Erinnerungen an
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