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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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dem ungekühlten Fleisch ablegten. Daneben noch die Eingeweide von der Schlachtung. Hier in Garmisch-Partenkirchen dagegen die blitzsauberen Supermärkte mit Dutzenden verschiedenen Fleisch- und Wurstsorten, Käsetheke, Grillstation, übervolle Brotregale. Menschen, die abgepackte Wurst oder einen Joghurt angeekelt wieder ins Regal legen, nur weil das Haltbarkeitsdatum bald abläuft und dann alles am Abend in den Müllcontainer wandert. Im Kosovo gab es keine Supermärkte, nicht mal Kanalisation, keine Ärzte – nichts. Er konnte nur schwer die Vorstellung verarbeiten, das hier in Deutschland Leute Probleme haben, ob sie nun 200 oder 400 Euro für ein Paar Lederschuhe ausgeben wollen, während in Prizren Kinder bei Minusgraden barfuß an der Straße standen und bettelten. Mitten in Europa so ein
derartiges Elend zu sehen, war fern seiner Vorstellungskraft. Monatelang hatte Stefan ausgemergelte Kinder gesehen, hagere Menschen, die 40 waren und aussahen wie 70-jährige Greise, kaum noch Zähne im Mund. Für Stefan war klar: Wir leben in einer Scheinwelt mit Scheinproblemen und machen uns hier in diesem Schlaraffenland das Leben gegenseitig zur Hölle durch diesen endlosen Konsumwahn, dieses Angeben und Protzen, mit dem, was wir kaufen können. Es erschien ihm alles so sinnentleert durch seine Erlebnisse im Kosovo – nur ein paar hundert Kilometer entfernt von uns. Der Frieden, die schöne Natur, die netten Menschen, die Freunde in Garmisch – diese ganze Idylle erschien Stefan nun wie eine schlechte Theatervorstellung, künstlich und verlogen, einfach falsch. Vor allem nachdem er gesehen hatte, wie sich ehemals befreundete Nachbarn im Kosovo gegenseitig niedergeschossen hatten. Stefans Urvertrauen in das Gute war angeschlagen.
    Vio war bald allein unterwegs in die Disko zum Tanzen, allein zum Markt, allein zum Einkaufen. Stefan konnte das alles nicht mehr ertragen, wollte nicht mehr raus, sondern einfach nur ruhig in seinem Wohnzimmer sitzen, in der Wärme, nicht im kalten Zelt – in der Hoffnung, vergessen zu können und wieder ganz normal wie früher zu leben.
    Wie tief die schrecklichen Erlebnisse saßen, wurde Vio auf einen Schlag bewusst, als sie eines Tages Stefan um seine Meinung bat, ob ein Stück Fleisch, das sie zwei Tage zuvor gekauft hatte, noch gut sei. Sie hielt ihm die Tupperdose hin, doch sobald er sie geöffnet und den leichten Geruch wahrgenommen hatte, musste Stefan sich übergeben. Der Gestank von Fleisch, das in Verwesung übergeht, der Leichengeruch, das Grauen im Krieg – all das kam ihm sprichwörtlich wieder hoch.
    Er hatte diesen Geruch auch in den Wochen danach immer in der Nase. Wenn er einen Krimi im Fernsehen sah, in der es eine Leiche gab, sprang er plötzlich auf und fing das Suchen an,
schaute unter die Couch, schnupperte herum, weil angeblich irgendwas abartig riechen würde. Bald war klar, dass allein die Fernsehbilder wieder die Erinnerung an den Verwesungsgeruch weckten und damit die Erinnerungen an die Gräuel, die er erlebt hatte. Diese Bilder kamen immer wieder hoch und standen zwischen Vio und Stefan. Die Wochen nach dem ersten Auslandseinsatz war die schlimmste Zeit in der Ehe von Vio und Stefan. Es dauerte eine ganze Weile, um das auseinandergedriftete System wieder in Einklang zu bringen. Viel Geduld auf beiden Seiten war nach Stefans erstem Kosovo-Einsatz nötig, bis sich die beiden wieder fanden. Sie haben ausgemacht, dass jeder eine Auszeit, eine Stunde für sich beanspruchen kann, in der er von allen Aufgaben frei ist und sich nur auf sich selbst konzentrieren kann. Eine Strategie, bei der man ehrlich zueinander sein und sagen können muss, dass man nicht mehr kann und einfach eine Pause braucht. Und wenn beide nicht mehr können, muss man auf den anderen zugehen und sich ehrlich fragen, wer von beiden jetzt näher an seine Grenzen gekommen ist als der andere – und dann auch seine eigene Befindlichkeit für den anderen zurückstellen. Dieses Abkommen war die Rettung für die Partnerschaft, dieses Verstehen, Aufeinandereingehen und für den anderen da sein. Grundlegend dabei war der Wille, ihre Beziehung nie aus den Augen zu verlieren und wieder etwas miteinander zu unternehmen, wenn die Kraft dafür da war. Sie erinnerten sich gegenseitig an ihr Versprechen vor dem Altar »in guten, wie in schlechten Zeiten« füreinander einzustehen – und natürlich an ihre Liebe zueinander.
    Bei den drei folgenden Auslandseinsätzen gab es nach jeder Rückkehr Stefans diese

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