Wofuer wir kaempfen
sei es auf einer Patiententrage. Das Leben im Lager war ein permanenter Kampf um Schlaf. Dieser geraubte Fünfminutenschlaf war nur scheinbar erholsam – binnen Sekunden ist man einfach weg, wie in tiefer Bewusstlosigkeit, aber beim Aufwachen fühlt man sich wie gerädert. Zu schnell ist der Fall ins traumlose Nichts und zu abrupt das Aufwachen.
Der einzige Zeitpunkt, der wie ein Heiligtum nach Möglichkeit von allen Störungen frei gehalten wurde, war der Sonntagvormittag. Da war Lagerruhe angeordnet, und man konnte »ausschlafen«. Nur wer monatelang unter Schlafentzug gelitten hat weiß, wie wichtig dieser Sonntagmorgen für uns Soldaten war. Mit der Lagerruhe war es aber meist schon um 11 Uhr wieder vorbei.
Das Leben im Lager war reduziert – doch gemessen an dem, was wir draußen in Sarajevo erlebt hatten, war es der pure Luxus. Obwohl wir keine Dusche und kein WC in unseren Containern hatten. Wenn man nachts noch mal pinkeln musste, hieß es sommers wie winters aufstehen, Uniform anziehen und rüber über den Platz zur Zentrallatrine. Das überlegt man sich mitten in der Nacht dreimal. Vor allem, wenn es kalt ist. Viele Kameradinnen haben vor dem Schlafengehen nichts mehr getrunken, damit sie von dem Theater verschont bleiben. Aufwachen, anziehen, Latrine. Ich habe aus Erzählungen mitbekommen, dass sich Kameraden in den ersten Wochen nach ihrer Rückkehr in der eigenen Wohnung – man muss sich das mal vorstellen – im Schlafdusel wieder komplett angezogen
haben, die Kleider, Stiefel und alles, nur um aufs eigene Klo zu gehen. Ich hatte denselben Spleen in den ersten Wochen, nachdem ich nach Deutschland zurückgekommen bin: Meine Schnürschuhe mussten abends immer neben dem Bett stehen. In den ersten Wochen habe ich sie schlaftrunken auch immer angezogen, wenn ich hochmusste. Ich erzähle das nur, damit klar wird, wie tief einen das Lagerleben prägt und selbst solche Nebensächlichkeiten in Fleisch und Blut übergehen können.
Der Draht nach Hause
Während ich langsam in dem amöbenartigen Körper eines Bundeswehrlagers aufging und von seiner faszinierenden Geräuschwelt assimiliert – sprich: lärmunempfindlich – wurde, saß meine sensible Mutter Ilona in ihrem Dresdener Liegenschaftsamt wie auf glühenden Kohlen. Wir hatten kaum noch direkten Kontakt – die wenigen Möglichkeiten zum Telefonieren nutzte ich, um mit Tino zu sprechen. So blieben nur die Briefe. Und die waren inhaltlich fern von dem, was meine Mutter zur Befriedigung ihrer vielen, vielen Fragen benötigt hätte – jedenfalls war sie kreuzunglücklich.
Sie hat das folgendermaßen erlebt: »In den ersten Wochen nach Antjes Abflug nach Sarajevo saß ich vor meinem Computer und konnte nicht arbeiten, weil ich nur noch an Antje dachte und wirklich Tränen meinen Blick auf spannende Katasterauszüge verschleierten. Wir konnten mit ihr nur sehr selten telefonieren, und Internet hatten wir gar nicht – weder zu Hause noch im Büro. Doch da gab es meinen neuen Abteilungsleiter. Der war aus dem Westen und damals gerade mal 25 Jahre alt. Hätte auch mein Sohn sein können. Entsprechend reserviert war ich. Aber dieser Abteilungsleiter entpuppte sich als der verständnisvollste Mensch und Helfer, den man sich als Chef nur vorstellen kann. Als er mich heulendes Elend sah, fragte er
gleich, was denn los sei, und ich habe ihm erzählt, dass Antje im Auslandseinsatz in Sarajevo ist und wir nur selten Kontakt haben, dass ich ihr nicht mal mailen kann, weil die Post keine Leitungen dafür freigibt. Es stellte sich heraus, dass mein Chef selbst bei der Bundeswehr gewesen war und ganz großes Verständnis für die Sorgen einer Mutter hatte. Und er hat sofort gehandelt. In der ganzen Behörde gab es noch kein Internet, aber die Post hatte bereits die Leitungen gelegt. Er hat dafür gesorgt, dass ich den allerersten Internetzugang im ganzen Amt bekommen habe – mit der ausdrücklichen Erlaubnis, den Dienstcomputer auch zum Mailen mit Antje zu nutzen. Und dann hat er noch den Satz gesagt, den ich ihm nie vergessen werde: ›Frau Rudolph, wenn Sie mal irgendwas brauchen, wenn mal irgendwas mit Antje ist – ich helfe Ihnen!‹«
Mit dem Internetanschluss hat sich die Arbeitsleistung meiner Mutter schlagartig verbessert, und wir konnten uns beinahe wieder so austauschen wie in unserer kleinen Küche daheim in Dresden.
Ein anderes Verbindungsglied nach Hause war Radio Andernach, der Sender der Bundeswehr, wo Angehörige und Soldaten »mit der
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