Wofuer wir kaempfen
worden waren.
Über 11 000 Menschen aller Ethnien und Religionsgruppen – darunter 1600 Kinder – wurden bei dieser Belagerung getötet. Allein in den zwei Monaten August und September 1992 fielen den Heckenschützen, die wahllos auf alles schossen, was sich bewegte, 253 Zivilisten und 406 Soldaten zum Opfer – unter den toten Zivilisten waren 60 Kinder. Die Straße wurde von der Bevölkerung bald »Sniper Alley« genannt. Viele Menschen wurden Ziel der Scharfschützen und Granatwerfer in den umliegenden Höhenzügen, nur weil sie zu verdursten drohten und trotz der Gefahr Wasser holen mussten an einer der letzten funktionierenden öffentlichen Zapfstellen. Kleinkinder blieben manchmal tagelang allein und ohne Hilfe in den Wohnungen zurück, weil der Vater an der Front und die Mutter beim Wasserholen getötet worden waren.
Während der Belagerung legten die Einwohner ganze Tunnelsysteme an zum Schutz vor den überall lauernden Scharfschützen. Der berühmte 800 Meter lange Sarajevo-Tunnel wurde 1993 auf dem Höhepunkt der Kämpfe fertiggestellt. Ein mit Erde überdeckter Laufgraben, der zur neuen Hauptstraße der Stadt wurde und vielen Eingeschlossenen das Leben gerettet hat.
Dabei war Sarajevo einst eine junge, aufstrebende, eine moderne Stadt. Ganz plötzlich musste der Virus des Krieges über die Menschen gekommen sein und hatte Gewalt und Zerstörung entfesselt. Nachbarn, die jahrzehntelang friedlich zusammengelebt
hatten, waren plötzlich zu Todfeinden geworden und hatten das Wertvollste zerschossen, was wir Menschen haben: den Frieden und das Vertrauen. Die Wunden und traumatischen Erlebnisse in der Bevölkerung waren tief: Raub, Mord, Vergewaltigung – in nahezu jeder Familie waren Opfer zu beklagen.
Was ich sah, ist mit Worten kaum zu beschreiben: 50 Kilometer Dorf an Dorf nur kaputte, verlassene Häuser. Viele der Gehöfte waren ausgeplündert und angezündet worden. Die Ställe waren leer – in den Brunnen lagen Kadaver. Auf den minenverseuchten Feldern wucherte das Unkraut, Gebüsche und Bäume eroberten sich die Felder zurück. Bald würde hier ein großer Wald die einst mühsam gepflegte Kulturlandschaft überwuchern.
Das Pionierkontingent der SFOR leistete Wiederaufbauhilfe, räumte Minenfelder und verteilte Holz und anderes Baumaterial an die Bevölkerung. Wir sahen Familien, die wie Höhlenbewohner in ausgebrannten Gebäuden hausten. Sie kochten über offenem Feuer. Statt Fensterscheiben gab es Holzbretter und Plastikplanen. So versuchten die Einwohner, den kommenden Winter zu überstehen. Ich weiß bis heute nicht, wie sie das durchgehalten haben. Zwischen notdürftig geflickten Häusern sah man Hofstellen, die von den geflüchteten Eigentümern aufgegeben worden waren, ohne dass jemals wieder eine Chance auf Rückkehr bestand. Die Zugehörigkeit zur falschen Volksgruppe oder Religion bedeutete für die jeweilige Minderheit Vertreibung.
Eingesperrt im Camp
Als ich 2003 nach Sarajevo kam, war der von den SFOR-Truppen erzwungene Frieden acht Jahre nach Ende des Bürgerkriegs immer noch brüchig. Immer wieder flackerten Unruhen
und Gewalt zwischen den verschiedenen ethnischen Gruppen auf, mühsam unter Kontrolle gehalten von den SFOR-Soldaten.
Während der Belagerung Sarajevos hatte die deutsche Luftwaffe unter Lebensgefahr die Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und Medikamenten versorgt, was der Bundeswehr großen Respekt und Beachtung aus aller Welt einbrachte. Am 6. Februar 1993 wurde eine C160-Transall des Lufttransportgeschwaders 62 beim Landeanflug getroffen und der Ladungsmeister, Hauptfeldwebel Wiebel, schwer verletzt.
Das Feldlager Rajlovac hat den offiziellen Namen »Camp Capitaine Carreau«. In Deutschland kennt diesen Namen keiner. Die meisten Deutschen kennen ja nicht einmal den Namen auch nur eines deutschen Soldaten, der in Afghanistan oder bei anderen Auslandseinsätzen getötet worden ist. Gilles Carreau war Hauptmann der französischen UN-Schutztruppe, als er am 22. Juli 1995 an der Spitze eines Konvois ins belagerte Sarajevo fuhr, um die Bevölkerung mit Lebensmitteln und Medizin zu versorgen. Es war nachts um 23 Uhr, als eine vom Berg Igman abgeschossene Mörsergranate serbischer Freischärler seinen Jeep traf. Gilles Carreau verblutete, weil nicht schnell genug Hilfe kam.
Es gibt viele dieser Geschichten aus den Balkaneinsätzen – nicht nur bei der Bundeswehr. Mit solchen Namensgebungen versucht man die Erinnerung an Menschen wachzuhalten, die ihr Bestes gegeben haben
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