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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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Abend des 15. 11. 2005 mit meiner Frau Daniela in Murnau führte, nachdem wir die grausame Wahrheit über die Verletzungen der beiden erfahren hatten. Es waren fast zwei Stunden des Weinens, der Hoffnung sowie des Mitgefühls für die beiden, in denen ich mit meiner Frau versucht habe, diese Flut von Gefühlen, meine Wut und meine Trauer zu bewältigen. Und nicht nur wir waren tief berührt. Als ich am nächsten Tag mit meinem Stellvertreter in der Werdenfelser Kaserne in Murnau telefonierte, klang der besorgt: ›Du, die gehen gar nicht mehr heim – die sitzen den ganzen Tag bis spät in die Nacht zusammen, reden, liegen sich in den Armen und weinen. Der Aufenthaltsraum ist gesteckt voll, keiner will weg und irgendeine Nachricht verpassen, wie es in Koblenz um die verletzten
Kameraden steht.‹ Alle waren aufgewühlt von den Ereignissen. Die fünfte Kompanie war im Bataillon schon immer als ein sehr eingeschworener Haufen bekannt gewesen mit einem sehr guten Zusammenhalt. Dass da zwei Kollegen und Freunde um ihr Leben kämpfen, musste natürlich eine tiefe Wirkung zeigen in unserem Team, aber das hatte es so noch nicht gegeben. Als Soldat und Vorgesetzter muss man natürlich auch auf die Moral der Truppe schauen. Da macht man sich als Spieß der Kompanie dann doch Gedanken: Was passiert da? Bröckelt da etwa die Moral? Werden wir erleben, dass viele den Dienst quittieren?
    Durch das Telefonat mit meiner Frau hatte ich selbst erfahren, wie wichtig es jetzt sein würde, Trauer einfach mal zuzulassen, zuzuhören, aufzufangen, was mir anfangs innerhalb einer solchen militärischen ›Spezialtruppe‹ wie den Feldjägern mit ihren Personenschützern, Diensthundeführern und Ermittlern nicht einfach erschien. In der Vorstellung der meisten Menschen sind Soldaten nur harte Kerle. Aber so war es nicht. Bei jedem spürte man eine so tiefe Betroffenheit, eine Nachdenklichkeit, wie ich sie vorher nie erlebt hatte. Unser Aufenthaltsraum wurde zu einer Art Krisencenter, in dem die neuesten Nachrichten aus Koblenz ankamen und besprochen wurden. Aus der ganzen Bundesrepublik kamen Anfragen der anderen Feldjägerstandorte, Hilfsangebote und Grüße. Wir entdeckten, dass die Bundeswehr eine große Familie sein kann, die hilft, wenn einer von uns in Not ist. Das war ein starker Trost. Die Gespräche fanden immer innerhalb der Kaserne in unserem Kompaniegebäude statt und wurden nicht nach draußen getragen. Das war eine stille Abmachung. Die Kameraden saßen hier bis spät in die Nacht zusammen und führten Gespräche, sie haben Plakate und Genesungskarten angefertigt und auch ein Poster mit der Zugspitze, die wir im Krankenzimmer der beiden aufstellen würden. Ich denke, dass die ersten Tage
nach dem Anschlag für alle Beteiligten, Kameraden, die Tino und Stefan kannten, die schwierigste Zeit war. In dieser Phase haben viele Soldaten unserer Einheit nach intensiven Gesprächen bis an die Grenze der Erschöpfung und der Hilflosigkeit miteinander erfahren, was es heißt und wie gut es tut, einfach mal zu weinen oder den Kameraden in den Arm zu nehmen, was unter Männern in Uniform ja eigentlich ein Tabu ist. Ja, wir haben geweint – manchmal habe ich sogar angefangen, was es den anderen auch erleichtert hat, diese tiefe, schmerzende Erfahrung über den Verlust eines Kameraden und die schweren Verwundungen von Tino und Stefan auch mal mit einer Umarmung oder Tränen zu bewältigen. Das war sehr wichtig für uns alle und auch eine menschlich sehr wertvolle Erfahrung: Die Fähigkeit, zu trauern und Mitgefühl zeigen zu können. Ich glaube, aus dem Alter ist man raus, dass man sich als Mann für seine Tränen schämen muss. Im Gegenteil verleiht es einem neue Stärke, wenn man das zulassen kann. Es erleichtert und gibt einem Kraft, immer wieder auf die Betroffenen zuzugehen. Nach diesen Erfahrungen kann ich zu der alten Frage ›Dürfen Soldaten weinen?‹ nur die Aussage treffen: Sie dürfen nicht nur weinen, sondern sie sollen es sogar! Weil es hilft.
    Die intensiven Gespräche setzten sich auch in den Familien fort. Viele Ehepartner hatten Fragen und Ängste. Es war eine Zeit, in der sich mein eh schon sehr zeit- und arbeitsintensiver Beruf als Spieß der Kompanie auch in meinem eigenen Familienleben so sehr breitmachte, wie ich es zuvor noch nie erlebt hatte. Meine vier Kinder waren damals vierzehn, dreizehn, sieben und sechs Jahre alt und gingen mit den Kindern von Stefan Deuschl in die Schule oder zum Fußballspielen. Auch für

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