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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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Erinnerung genau an diesem Punkt an. Daher konnte er sich keinen Reim darauf machen, wie wir so schnell aus Deutschland nach Kabul gekommen waren, wie er zunächst dachte. Er sah so verdutzt aus, dass wir kurz lachen mussten. Aus Erleichterung. Okay, er war wieder im Spiel. Er hatte uns erkannt. Das war es, was zählte. Mit seinem »Häää, was macht ihr denn hier?« hatte er gezeigt, dass er seine Umwelt klar erfasste und alles normal zu arbeiten schien. Das war alles, was ich von diesem Moment verlangt hatte. Jetzt käme die Sache mit dem Bein!
    Ich war schon dabei, Luft zu holen und anzufangen, als uns Tinos nächster Satz förmlich umhaute. Ohne auch nur mit einem Blick sein Bein zu würdigen, sagte Tino nur: »Dieser scheiß Phantomschmerz!« Ich habe in diesem Moment wirklich die Luft mit einem »Puuuh« ausgestoßen und dachte: Er weiß, dass sein Bein ab ist.
    Und da ging bei uns der Blick rum. Von mir zu Heike, von Heike zu Tinos Eltern, von Tinos Vater zu Tino. Wir dachten alles dasselbe: Woher wusste Tino, dass man seinen Unterschenkel amputiert hatte? Er war im Koma gewesen. Das Wort Phantomschmerz verwendet jemand ja nur, wenn er weiß, dass was weg ist. Woher also ? Vielleicht hatte er kurz nach der Explosion schon erfasst, dass sein Bein nicht zu retten war, als er versucht hatte aufzustehen und der Fuß ihm schon nicht mehr gehorchte. Vielleicht hatte er auf dem Transport ins Feldlazarett aus den Reaktionen der Sanitäter und Ärzte schließen können, wie schwer er verletzt war. Vielleicht bekommt ein Mensch im Koma auch mehr mit, als wir wissen. Ärzte sagen, dass sie deshalb mit Komapatienten so sprechen, als wären diese wach. Wir wissen es bis heute nicht. Tino selbst hat keine Erklärung dafür. Für uns alle, die wir im Zimmer standen, war es jedenfalls eine unglaubliche Erleichterung, dass wir es ihm nicht mehr sagen mussten.

    Für Tinos Eltern war es ein neuer Schock, ihren beinamputierten Sohn zu sehen. Seine Mutter kniete am Bett und streichelte seine Wangen. In Tränen aufgelöst. Der Vater stand wie erstarrt am Bettende, unfähig, etwas zu sagen, etwas zu tun. Ich selbst war damit beschäftigt, mich von der Situation nicht völlig überwältigen zu lassen. Ich dachte nur, ich kann mich jetzt nicht meinen Gefühlen hingeben, das wäre für Tino sicher furchtbar gewesen. Und so habe ich versucht, Stärke zu zeigen und Tino Mut zu machen. Ich weiß nicht mehr wirklich, was ich alles geredet habe. Aber sicher habe ich auch gesagt: Es wird alles wieder gut.
    Bei Tino begann jetzt das langsame Ertasten und Einsortieren seines Erinnerungspuzzles, wie morgens nach einem Albtraum. Ich lebe noch. Wo bin ich? Wie lange war ich bewusstlos ? Was genau ist geschehen? Ich sagte zu Tino, dass wir schon die ganze Woche bei ihm im Krankenhaus gewesen seien. »Wie, die ganze Zeit?« Wir erzählten ihm, was in den vergangenen fünf Tagen geschehen war und wie wir in Deutschland den Anschlag erlebt hatten. Er konnte das alles zunächst gar nicht fassen. Seine Erinnerungen an den Anschlag aber waren gut. Seine nächste Frage betraf gleich das Schicksal von Stefan und Armin Franz. Stück für Stück haben wir ihm alles beigebracht.
    Nun darf man sich das Ganze nicht wie eine einfühlsame, sensibel geführte Unterhaltung mit einem Kranken vorstellen. Wir haben uns angebrüllt. Aus einem ganz einfachen Grund: Seine durch die Explosion zerrissenen Trommelfelle waren trotz der Operationen noch nicht verheilt – er hatte einen Großteil seiner Hörfähigkeit eingebüßt. Wir mussten schreien, damit er uns versteht. Vor allem hohe Töne kann Tino bis heute nicht gut hören, etwa den Klingelton seines Handys, weshalb immer wieder Anrufe verpasst werden.
    Beginn einer neuen Zeit
    Bei Tino setzte in den folgenden Tagen eine Krise ein. Er war sehr müde und schlief immer wieder ein. Die Ärzte machten sich Sorgen, dass er in eine handfeste Depression abzurutschen drohte. Der Verlust seines Beins schien ihn schwer mitzunehmen. Tino war völlig verschlossen. Er wollte sich nicht mal von seiner Schwester waschen lassen. Ich musste erst ein Machtwort sprechen: »Tino, du stinkst zum Himmel!« »Nee, ich stinke nicht.« »Doch, du stinkst noch nach Afghanistan. Das wird jetzt abgewaschen. Sonst kommen wir morgen nicht wieder.«
    Es war, als brauchte er mehr Zeit, um sich einzunorden, anzukommen und zu erfassen, was mit ihm geschehen war. Als müsste er erst das Fünftageloch des künstlichen Komas wieder zuschieben und

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