Wofuer wir kaempfen
eine Verbindung herstellen von seinem jetzigen Zustand in sein vorheriges Leben. Die Ärzte hatten uns gesagt, dass Tino an Bord des MedEvac seinen sportlichen Ehrgeiz in Lebenswillen umgewandelt hatte. Genau wie Stefan. Sie hatten gekämpft. Sie wollten nicht sterben. Tino hat später erzählt, dass er in dem Augenblick, als ihm klar wurde, wie schwer er verletzt war, voller Wut dachte: »Lasst mich in diesem Land nicht verrecken. Nicht so.«
Ich kann nicht mehr genau sagen, an welchem Tag nach dem Koma er angefangen hat zu erzählen, wie das Attentat abgelaufen ist. Jede Minute hat er beschrieben, jedes Detail. Immer wieder. Das war für uns alles neu – keiner wusste bis dahin, was sich im Wagen in den letzten Minuten vor der Explosion abgespielt hatte. Armin Franz war tot und Stefan Deuschl lag noch immer im Koma.
Tino hat viel geweint in diesen Tagen – weil er so überwältigt war. Die 13 deutschen Feldjäger des ISAF-Kontingents in Kabul hatten dem Piloten des MedEvac eine von allen Soldaten
und Kommandeuren unterschriebene Bayernfahne mitgegeben, die die Feldjäger in Koblenz zusammen mit einem Poster des Zugspitzmassivs an die Wand in seinem Zimmer getackert hatten. Dazu die vielen Grußkarten seiner Einheit in Murnau und von den anderen Garnisonen in Deutschland. Die Hundeführer hatten Fotos geschickt mit Genesungswünschen und Pfotenabdrücken von ihren jungen Schutzhunden. Das Zimmer war eigentlich gar kein Krankenzimmer mehr, sondern sah aus wie ein Souvenirladen.
Die Feldjäger sind eine kleine, eingeschworene Einheit und pflegen einen unglaublichen Zusammenhalt. Da kennt jeder jeden, von Ausbildungen, Manövern oder eben Auslandseinsätzen. Völlig unabhängig, mit welcher Kompanie du zu tun hast: In erster Linie bist du Feldjäger und findest überall eine ungeheure Hilfsbereitschaft und Anteilnahme. Die Feldjäger pflegen eine Kameradschaft, wie man sie nicht besser erleben kann. Das war menschlich unglaublich ergreifend und schön. Diese Kameradschaft unter den Soldaten hat auch die Ärzte sehr beeindruckt, so wie Oberfeldarzt Dr. Stefan Schaefer, der Tino und Stefan mit dem MedEvac heil nach Deutschland gebracht hatte: »Bei keinem meiner vielen MedEvac-Einsätze habe ich dieses Maß an Kameradschaft erlebt, wie den beiden zuteil wurde. Was die Kameraden aus Murnau und Mittenwald da geleistet haben, überhaupt die Feldjäger aus dem ganzen Bundesgebiet, wie die sich um die Familie und die Angehörigen gekümmert haben, hat mich menschlich tief bewegt. Das ist nicht immer so und spricht auch für die beiden Verletzten. Es war eine Wertschätzung aller Menschen, die an dieser Rettungsaktion beteiligt waren, und ich muss sagen, das hat mich beeindruckt. Ich hatte die ganze Zeit, während sie im Krankenhaus lagen, Kontakt gehalten und verfolgt, welche Fortschritte sie gemacht haben. Es ist eben nicht so, dass es einem Arzt nach Ende des Einsatzes egal ist, was aus seinen Patienten wird, man
bleibt da einfach dran. Auch unser Ärzteteam vom MedEvac hatte die Kameraden nicht vergessen. Als Tino und Stefan ins Krankenhaus nach Murnau verlegt wurden, kamen die Feldjäger vorbei und brachten uns zum Dank, dass wir ihre Jungs sicher zurückgebracht hatten, eine Flasche ihres selbst gebrauten Biers. Als besondere Auszeichnung trug die Flasche eine Armmanschette mit dem Kürzel ›MP‹ – Militärpolizei – zum Zeichen, dass die Feldjäger uns als Kameraden in ihre Gemeinschaft aufgenommen hatten. Diese Flasche steht bis heute auf unserer Station, und wir halten sie in hohen Ehren. Und sei der Durst noch so groß – da geht keiner dran!«
Am Anfang durften immer nur zwei Personen pro Patient in das Zimmer. Tino war noch ein bisschen »dubbelig« drauf und ist immer wieder eingeschlafen. Bei Stefan, der im Bett neben Tino lag, war nur Violetta da, denn Kinder durften nicht auf die Intensivstation. Am Tag, als Tino aus dem Koma erwachte, war Stefan noch ganz weit weg. Aufgrund der Schwere seiner Verletzungen war sein Koma auf unbestimmte Zeit verlängert worden. Wir haben uns jeden Tag auch um Stefan gekümmert. Für uns war immer klar: Wir gehen jetzt zu unseren Jungs. Zu Tino und zu Stefan.
Den Kampf um sein Leben hatte Tino gewonnen. Aber er würde noch mal sehr viel Kraft brauchen, um sein Leben auch leben zu wollen. Alleine würde er es nicht schaffen, vor allem, wenn ich ihn in seiner schwersten Lebenskrise verlassen würde. Ich sah, dass er mich brauchte. Das war für mich auch der
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