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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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wieder beruhigt schlafen – danach hat mich das Hupen und Piepen der Apparate nicht mehr so in Panik versetzt. Heute bin ich den Ärzten sehr dankbar für die Geduld, die sie mit mir hatten.«
    Dieser Weg wird kein leichter sein …
    Tino machte große Fortschritte. Ich war jeden Tag auf der Intensivstation. Zwei Wochen nach dem Anschlag war mein durchtrainierter Tino nur noch Haut und Knochen. Sein Gesicht ganz schmal, seine Muskeln, die ich immer so geliebt hatte, waren alle weg. Ein Spargeltarzan lag da vor mir im Krankenbett, mit Armen wie dürre Ästchen und knochigen Oberschenkeln. Auf den Fotos, die wir im Krankenhaus gemacht haben, kann man heute noch sehen, was die Tage im künstlichen Koma seinem Körper alles abverlangt hatten; wir sehen alle sehr elend aus, mit tiefen Spuren der Anstrengung in unseren Gesichtern.
    Wir haben bald angefangen, jeden Tag Übungen zu machen, um Tinos Muskeln wieder aufzubauen. Erst Armtraining. Dann Aufrichten am Bettgalgen, die Bauchmuskeln stimulieren. Jeden Tag ein bisschen mehr. Nach weiteren Tagen ging es raus aus dem Bett. Die ersten Gehversuche mit Krücken. Trotz der Schmerzen. Es war so anstrengend, dass Tino schnell wieder ins Bett musste und sehr viel geschlafen hat. Zunächst war es wirklich zum Verzweifeln. Nichts ging voran. Aber irgendwann kam es dann. Ganz plötzlich, als ob man einen Schalter umgelegt hätte. Sein Körper begann sich an die neue Situation zu gewöhnen. Tinos Gleichgewichtssinn kehrte langsam zurück. Irgendwann kam Tino dann runter von der Intensivsation in ein normales Krankenzimmer. Ich war fast den ganzen Tag
bei ihm, habe ihm beim Duschen geholfen, auch unser Gehtraining haben wir Tag für Tag gesteigert. Zuerst im Zimmer, dann raus auf den Gang. Gang rauf. Gang runter. Und irgendwann war er wieder da, sein Ehrgeiz, und er sagte: »Wir schaffen das, ich will das.« Von Woche zu Woche konnten wir uns über mehr Fortschritte freuen.
    Für die Psychologen der Klinik war Tino ein Rätsel. Keiner wusste, woher er die Motivation nahm, so schnell nach der Amputation wieder laufen zu lernen. Unser weißhaariger Psychologe sagte. »Ich weiß nicht, was ich mit Tino machen soll, der braucht mich nicht. Das ist so völlig atypisch – ich kann mir nicht erklären, wie er diesen Schock so schnell wegsteckt – das steht in keinem Lehrbuch. Es soll Menschen geben«, fuhr er fort, »die über die unglaubliche Gabe der Resilienz verfügen. Sie sind psychologisch sozusagen unkaputtbar und stecken mental größte Tragödien weg, an denen andere Menschen zerbrechen würden, ohne selbst Schaden zu nehmen.« Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Psychologen Fälle solcher sprichwörtlichen »Stehaufmännchen« bei Soldaten und KZ-Opfern gefunden, erstmals wissenschaftlich beschrieben und erforscht. »Entweder seine Krise kommt noch – oder aber Tino ist so ein Phänomen!«
     
    Zum Glück ist die Krise bis heute nicht eingetreten. Erst Tage nach dem Gespräch mit dem Psychologen hatte ich verstanden, was Tinos Antrieb war. Tino ist nämlich wirklich ein Phänomen, was seine Selbstmotivation anbelangt. Er hatte beim ersten Besuch seiner Eltern mitansehen müssen, wie verzweifelt seine Mutter und sein Vater über seinen Zustand waren. Da hatte er sich fest vorgenommen, seinen Eltern beim nächsten Besuch eine Woche später aufrecht entgegenzugehen. Seinen Eltern hatte er zum Abschied gesagt: »Mama, ich verspreche dir, wenn du das nächste Mal wiederkommst, komme ich
dir entgegengelaufen!« Von dieser Idee war er völlig besessen. Irgendwie hatte ich das Gefühl, Tino wollte seiner Mutter das Gefühl nehmen, dass er irgendwie »beschädigt« sei. Er wollte für sie ein Zeichen setzen, dass bald alles wieder so wie früher sein würde. Wenn ich etwas gelernt habe in dieser Zeit, dann das: Man muss sich Ziele setzen und fest daran glauben, dass man sie erreichen kann – auch wenn dieser Weg kein leichter ist.
    Ein Lied mit genau dieser Textzeile lief damals rauf und runter, egal wann man das Radio anmachte. »Dieser Weg« von Xavier Naidoo wurde unser Lied, das Tino auch immer wieder über seinen Walkman hörte und laut mitsang, wenn er den leisesten Hauch eines Durchhängers oder ein Stimmungstief verspürte.
     
    »Dieser Weg wird kein leichter sein, dieser Weg wird steinig und schwer, nicht mit vielem wirst du dir einig sein, doch dieses Leben bietet so viel mehr. Also ging ich diese Straße lang, und die Straße führte zu mir.«
     
    Unser Spieß Markus Eng,

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