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Wofuer wir kaempfen

Wofuer wir kaempfen

Titel: Wofuer wir kaempfen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tino Kaeßner , Antje Kaeßner
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aus diesem Dämmerzustand zurück in neuen Schlaf. Als er wieder aufwachte, hörte er Stimmen, die seinen Namen riefen. Er verspürte Durst, sein Mund war trocken, und eine warme Welle neuer Schmerzmittel, die den Würgereiz gegen den Beatmungsschlauch unterdrücken sollten, bis er wieder selbst die Kontrolle über die Atmung übernehmen konnte.
    Beim Erwachen aus dem Koma reicht die Kraft für die eigene Atmung anfangs oft nicht aus. Ohne künstliche Beatmung würde die Lunge kollabieren und der Patient beim Einschlafen ersticken. Sich bewegen, nach Hilfe rufen, den Tod abwenden könnte er nicht, Arme und Beine sind bleischwer, ohne jede Kraft vor Müdigkeit und den Nachwirkungen der Narkose. Der Beatmungsschlauch wird deshalb erst entfernt, wenn die
Selbstatmung des Patienten stark genug ist. Der Dämmerschlaf wechselt mit kurzen Wachphasen. Die eigene Körperwahrnehmung wird wieder intensiver. Jetzt können erste Wundschmerzen dem Patienten zu schaffen machen, die rasch durch Schmerzmittel unterdrückt werden. Der Patient wird von Stunde zu Stunde wacher. Das Leben kommt zurück. Es ist wie eine neue Geburt in ein von Grund auf verändertes Leben. Während sich Tinos Körper in diesem Ausnahmezustand des Wiedererwachens befand, war permanent eine Pflegekraft bei ihm. Am Samstagmorgen um 8 Uhr 30 goss ich gerade heißen Kaffee in unsere Tassen, als die Stationsschwester anrief, dass Tino am Aufwachen sei. Wir sollten schnell kommen und standen 15 Minuten später an seinem Bett.
    Ich wusste nicht, was mich erwarten würde. Mit dem Anschlag und Tinos Verletzung waren die Karten auch für mich wieder völlig neu gemischt. Was würde aus unseren Plänen werden, würde das alles noch Bestand haben, wovon wir geträumt hatten? Wir wollten heiraten, eine Familie gründen und ein Haus bauen. Als Frau träumt man von einer unbeschwerten Partnerschaft, einer schönen Zeit, die man gemeinsam erlebt – da passen Krankheit und Invalidität absolut nicht rein. Das ist die völlig andere Abteilung: ein Albtraum. Seit der Nachricht vom Anschlag hatte ich nur einen Gedanken: Hoffentlich hat er nichts am Kopf, ist entstellt oder geistig behindert. Ich bin wirklich kein Held, nur grundehrlich, wenn ich ganz offen sage: Wäre das so gewesen, denke ich, dass ich es nicht geschafft hätte. Eine geistige Behinderung und Pflegebedürftigkeit des Partners hätte bedeutet, mein eigenes Leben völlig aufzugeben. Wir waren nicht verheiratet. Ich war noch jung, mein Leben lag noch vor mir. Wäre ich verpflichtet, auf mein eigenes Leben zu verzichten für einen Menschen, der mich gar nicht mehr erkennt? Wäre es Verrat gewesen, wenn ich Tino verlassen hätte, um mir eine neue Existenz aufzubauen? Das
war der Gedanke, der mich stark belastete: Was ist, wenn Tino geistig behindert ist? Wie würde ihn der Verlust des Beins verändern? Viele Amputierte stürzen in eine lebenslange Depression. Wenn uns vor seinem Erwachen aus dem Koma jemand gefragt hätte, ob er das packt, wir hätten alle – seine Mutter, seine Schwester und ich, jeder, der ihn gut kannte – unisono gesagt, dass er damit nicht fertig werden würde. Tino ohne Sport – das war undenkbar. Wir dachten alle an den Sommer in Rügen. Und befürchteten eine Katastrophe. Wir hätten mit allem gerechnet, nur nicht mit dem, was dann kam, als wir die Intensivstation betraten.
    Ich werde Tinos Schwester Heike nie vergessen, wie sie beim Hineingehen fröhlich in Richtung Tinos Bett losposaunte: »Guten Morgen, Schlafmütze, aufwachen!« Typisch Krankenschwester, dachte ich noch, immer positiv drauf. Tino dämmerte vor sich hin, die Augen geschlossen. Ich setzte mich neben ihn aufs Bett und begann, ihm die Wangen zu streicheln. Was würde er als Erstes sagen? Würde er überhaupt sprechen können? Würde er wach werden oder lethargisch und leer vor sich hinstarren und uns alle gar nicht wahrnehmen? Alles war möglich.
    Tino öffnete langsam die Augen und es dauerte einen Augenblick, bis er seine Umgebung erfasste. Er sah uns völlig fassungslos an, dachte wohl zunächst, er sei noch in Kabul, sah dann aber plötzlich seine ganze Familie, Mutter, Schwester, Vater, starrte mich an und sagte den Satz, den keiner in so einer Situation erwarten würden: »Häää? Was macht ihr denn hier?«
    Tino ist wieder ganz da
    Tinos letzte Erinnerung vor dem Filmriss war die Hand des deutschen Bundeswehrarztes auf seiner Schulter im Feldlazarett der Amerikaner gewesen. Im Moment des Aufwachens
schloss seine

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