Woge der Begierde
weiblich. Aber das Weinen und das leise Singen - es klang eindeutig nach einer Frau.«
Mit nachdenklich zusammengezogenen Brauen ging Charles durch das Zimmer, nahm immer wieder einen Schluck von dem Brandy. »Ich weiß, dass die meisten alten Häuser wie Beaumont Place mit Aberglauben behaftet sind und Geschichten über Gespenster und Spukerscheinungen«, erklärte er schließlich und blieb vor dem Kamin stehen. Er drehte sich zu ihr um und sagte: »Sogar Stonegate hat so etwas, eine makabere Geschichte über eine Frau, die ermordet wurde und nun nach Rache dürstet. Über Wyndham Hall, den Landsitz meines Cousins, berichtet man, dass dort der Geist eines Ritters spukt, den einst Henry VIII. enthaupten ließ …« Er dachte kurz nach, verbesserte sich: »Oder irgendein anderer von den verflixten Henrys. Angeblich schleicht er durch die Flure und sucht seinen Kopf.« Er trank von seinem Brandy. »Aber das«, sagte er, »sind nur die Geschichten, wie man sie von einem ehrwürdigen Haus im Distrikt erwarten darf, besonders von einem, das seit Jahrhunderten bewohnt ist. Ich weiß, dass mein Cousin und ich, als wir noch Kinder waren, immer gehofft haben, den kopflosen Ritter zu Gesicht zu bekommen, aber das ist nie geschehen, und ehrlich gesagt, mir fällt kein einziger Mensch ein, der je glaubhaft versichert hätte,
einen der Geister gesehen zu haben - die Frau oder den Ritter. Es sind einfach nur Geschichten. Legenden.« Er starrte in sein leeres Glas und entschied, dass er mehr brauchte, schenkte sich großzügig nach, ehe er weitersprach: »Aber Sir Wesley ist etwas ganz anderes. Wir haben gestern Abend das Ding gesehen. Ich bin überzeugt - und niemand wird mich davon abbringen können -, dass ich das Gespenst von Sir Wesley gesehen habe. Und so fällt es mir nicht schwer, zu glauben, dass du etwas Übersinnliches in deinem Schlafzimmer gesehen hast.«
Daphne war so erleichtert, dass sie sich gegen die Rückenlehne sinken ließ. Im Lichte der Erlebnisse im Blauen Salon war sie zuversichtlich gewesen, dass er sie nicht auslachen würde oder sie für verrückt halten, aber da war doch ein winziger Schatten des Zweifels in ihr gewesen. Es war schon unvorstellbar genug, dass auf Beaumont Place ein Gespenst hauste, aber gleich zwei?
»Und sie hat sich dir nie wieder gezeigt?«, fragte er.
Daphne schüttelte den Kopf. »Nein, nie wieder … bis jetzt. Aber vergiss nicht, dass April und Adrian beide gesagt haben, dass sie Windgeräusche gehört haben, die sich anhörten, als ob jemand weinte. Ich habe das Gefühl, dass sie das sein muss, weil ich mir schlicht eine dritte Erscheinung dieser Art nicht vorstellen kann.« Düster fügte sie hinzu: »Zwei sind schon schlimm genug, aber drei …« Sie schaute ihn mit großen Augen an. »Ich fürchte, drei würden mich dazu bringen, an meinen Sinnen zu zweifeln.«
Er nickte. »Ich weiß genau, was du meinst, aber wir dürfen uns der Möglichkeit nicht völlig verschließen.« Er machte eine Pause, runzelte die Stirn. »Ich glaube allerdings«, begann er langsam, »dass, egal, wie viele Geistererscheinungen hier am Werke sind, sie alle eine Verbindung untereinander
haben. Anderenfalls scheint es mir höchst unwahrscheinlich, dass sie sich beide so kurz hintereinander entschlossen haben, uns ihre Gegenwart spüren zu lassen. Dasselbe gilt dann auch für die Geräusche, die Adrian und April gehört haben, ob das nun das Werk eines dritten Wesens ist oder nicht. Ich finde es schwer zu glauben, dass sie nichts miteinander zu tun haben sollen.«
Er schaute Daphne fest an. »Bis du und deine Geschwister hier in Beaumont Place eingezogen sind, scheinen Sir Wesley und die weibliche Geistererscheinung, wer oder was auch immer nächtens weint, damit zufrieden gewesen zu sein, unbemerkt zu bleiben.«
»Vergiss nicht die junge Dame aus London, die geschworen hat, ein Gespenst gesehen zu haben, als Sir Huxley ein junger Mann war.«
»Ja, aber ich vermute, wir sprechen von deinem kleinen Geist und nicht von Sir Wesley, und die junge Dame hat hier nicht gelebt, wie du und deine Geschwister es tun. Vergiss nicht, dass Sir Huxleys junge Dame praktisch unverzüglich abgereist ist, nachdem sie behauptet hat, das Gespenst gesehen zu haben.« Er wirkte nachdenklich. »Es ist bemerkenswert, dass es außer einmal in Sir Huxleys Zeit keine Gerüchte oder Gerede von seltsamen Vorkommnissen in diesem Haus gibt. Bei all den Besuchern, Gästen und Dienern, die sich seitdem hier aufgehalten haben,
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