Wogen der Liebe
spüre, dass er nicht mehr weit ist.«
»Tatsächlich? Wie kannst du das spüren? Besitzt du übernatürliche Kräfte?«
Viviane schüttelte stumm den Kopf. Wie sollte sie Oleif erklären, was ein liebendes Herz fühlte?
Mitten in ihre Unterhaltung platzte Raudaborsti, atemlos vom schnellen Laufen den Berg herauf. »Boote! Ich habe Boote auf dem Fjord gesehen!«
Augenblicklich sprangen alle auf und wollten zum Wasser hinunterlaufen. Astrid versperrte den Höhleneingang und hob gebieterisch die Hand. »Wir warten hier«, bestimmte sie. »Es könnten auch Fremde sein.«
»Es ist Thoralf! Ich spüre es.« Vivianes Wangen hatten sich vor Aufregung gerötet. Auch Yngvar drängte zum Ausgang.
»Selbst wenn es Thoralf ist«, erwiderte Astrid. »Wir werden ihn angemessen empfangen, so wie es sich geziemt. Wir werden nicht klagen, sondern Stolz und Würde zeigen.«
Einen Augenblick herrschte Schweigen. Viviane bewunderte diese starke Frau, die in einer solch schrecklichen Situation nicht ihren Stolz verlor. Auch wenn Viviane vor Ungeduld beinahe zerrissen wurde, so musste sie sich jetzt fügen und warten, was geschah.
Zu gern hätte sie zugeschaut, wie die Drachenboote in den Fjord glitten, majestätisch mit ihren hochgezogenen Steven, die überall Angst und Schrecken verbreiteten. Nun waren sie für Viviane ein willkommener Anblick, vertraut und ersehnt. In ihrem Bauch begann es zu kribbeln und zu prickeln, wie kochendes Wasser im Kessel. Ihr schwindelte bei dem Gedanken, gleich Thoralf gegenüberzustehen. Gleichzeitig nagten heftige Zweifel an ihr. Wie würde er ihr entgegenkommen? Freudig? Gleichgültig? Abweisend?
Astrid schickte Raudaborsti vor, die von einem sicheren Ausguck von den Felswänden hinab die Boote beobachten sollte. Gleichwohl konnten es fremde Wikinger sein, die Ragnvald herbeigerufen hatte. Immerhin gab es viel Wild in den Wäldern und viel Holz zu schlagen. Astrids Vorsicht war angebracht.
Viviane ballte ihre Fäuste, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sie hoffte, betete, bangte. »Lieber Gott, lass es Thoralf sein! Mein Herz sagt mir, dass er ganz nahe ist. Lass ihn gesund und unversehrt zurückkommen. Und lass ihn … lass ihn mich lieben.« Die letzten Worte flüsterte sie fast unhörbar. Die Ungewissheit zerrte an ihr wie an einer Angelschnur, es schmerzte in ihrer Brust, gleichzeitig klopfte ihr Herz heftig, und trotz der Kälte glühte ihr Gesicht wie von heftigem Feuer.
Oleif warf ihr irritierte Blicke zu, dann aber hockte er sich neben Yngvar an den Höhleneingang und erwartete wie alle anderen Raudaborstis Rückkehr.
Thoralf hatte die Segel raffen lassen, sobald sie in den Fjord hineinfuhren. Die Männer hielten die Ruder hoch, nur in großen Abständen ließ Thoralf das Kommando zum Eintauchen ertönen. Verwundert blickte er sich um. Kein Hörnersignal ertönte, das seine Rückkehr ankündigte. Es war unheimlich still. Kein Hund bellte, kein Jubel erklang. Niemand ließ sich sehen. Er starrte nach vorn, wo am Ende des Fjords Skollhaugen auftauchte. Doch je näher er kam, umso beklemmender wurde es. Skollhaugen hatte sich verändert. Es gab keine Dächer mehr, die Palisaden waren bis auf klägliche Reste heruntergebrannt. Mit offenem Mund und brennenden Augen starrte er auf das, was von der einst stolzen Fürstenburg übrig geblieben war. Ungläubiges Entsetzen malte sich auf seinem Gesicht. Auch die Männer schwiegen betroffen.
Thoralf hob befehlend die Hand. Mit den Ruderblättern hielten die Männer die Boote auf der Stelle. Aufmerksam suchte Thoralfs Blick die Wände des Fjords ab. Es könnte eine Falle sein. Er wollte sich den Rückweg offen halten. Doch was war hier geschehen? Wo waren all die Menschen, die zu Skollhaugen gehörten?
Die anhaltende Stille war gespenstisch. Nirgendwo bewegte sich etwas, und doch hatte Thoralf das Gefühl, beobachtet zu werden. War es ein schreckliches Unglück, oder hatte tatsächlich jemand gewagt, Skollhaugen anzugreifen? Doch wer? Und warum? Tausend Fragen schwirrten durch seinen Kopf. Gleichzeitig lähmte ihn das Entsetzen. Er selbst hatte Schrecken, Feuer und Tod verbreitet, ohne jemals darüber nachzudenken. Doch dass es einmal Skollhaugen treffen könnte, wäre ihm nicht im Traum eingefallen. Sein Traum! In den letzten Wochen hatten ihn schreckliche Träume heimgesucht. Er hatte es auf die schlechte Nahrung geschoben, das eisige Trinkwasser auf den Schiffen. Doch dann kam das Himmelsfeuer über sie. Die Walküren ritten über das
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