Wogen der Liebe
Wasser.
Plötzlich kam ihr die schwarze Tiefe des Meeres zu Bewusstsein. In diese Tiefe würde sie versinken wie die Leiche neben ihr. In Panik schlug sie um sich, versuchte, sich an dem Toten festzuhalten. Es gelang ihr nicht. Sie wollte schreien, doch das salzige Wasser erstickte ihre Stimme. Mit dem Kopf schlug sie gegen die Bordwand, alles um sie herum drehte sich. Ihr wurde übel, das Salzwasser brannte in ihrer Kehle.
Im nächsten Augenblick wurde sie emporgehoben. Sie riss die Augen weit auf – und erblickte Thoralfs Gesicht.
»Wolltest du dich wieder davonstehlen?« Er hielt sie an ihrem vollgesogenen Kittel fest. Zumindest geriet ihr Gesicht nicht wieder unter Wasser. Sie würgte heftig, dann erbrach sie das verschluckte Wasser.
Mit einem Ruck zog Thoralf sie an Deck. Viviane zitterte am ganzen Körper, in ihrem Bauch wühlten Krämpfe.
»Wolltest du etwa an Land schwimmen?« Um Thoralfs Mundwinkel zuckte es belustigt. »Das solltest du nicht tun, vor allem, wenn du nicht schwimmen kannst.«
Mühsam hob Viviane den Kopf und blickte sich um. Auf dem Deck lagen Tote und Verwundete. Die Ladung war zerwühlt, manches zerstört, vieles war über Bord gegangen. Sie erkannte das zweite Schiff aus Thoralfs kleiner Flotte, das längsseits lag. Seine Männer waren den Angreifern in den Rücken gefallen. Nur so hatten sie diesen Überfall überleben können.
Ungerührt wurden alle Toten und die verwundeten Feinde über Bord geworfen. Auch unter Thoralfs Leuten gab es zahlreiche Opfer. Die Toten fanden im Meer ihr nasses Grab, während die Überlebenden lautstark Odin anriefen. Die Verwundeten wurden notdürftig versorgt und suchten sich einen Platz im vorderen Teil des Schiffes. Thoralf hatte einige Gefangene gemacht. Die wurden an den Rudern festgebunden und nahmen die Plätze der Verletzten und Toten ein. Nach einigen Stunden setzten sie die Fahrt fort, als wäre nichts geschehen. Nur das Stöhnen der Verwundeten erinnerte Viviane an den vorausgegangenen Schrecken.
Ihre Knie zitterten noch immer. Ab und an warf sie verstohlene Blicke zu den Verwundeten. Einige von ihnen hatten schwere Verletzungen davongetragen, Axt- und Schwerthiebe, Messerstiche, Knochenbrüche. Es fiel ihr schwer, untätig danebenzusitzen. Doch wie sollte sie ihnen helfen? Sie hatte kein Verbandsmaterial, keine Hölzer zum Schienen der Brüche, kein Garn zum Nähen der Wunden. Außerdem, waren das nicht ihre Feinde? Sollte sie nicht froh sein, wenn sie so hilflos neben ihr lagen?
Unsicher richtete sie sich auf und ging mit schwankenden Schritten zum Heck, wo Thoralf stand und die Ruderer beaufsichtigte. Trotz der aufgewühlten See kamen sie jetzt gut voran. Die Segel blieben gerafft, sie waren bei dem Gefecht beschädigt worden.
»Die Verwundeten brauchen Hilfe.« Ihre Stimme klang heiser. Sie musste wieder husten.
»So? Brauchen sie das?«
»Sie haben Schmerzen, die Wunden müssen behandelt werden.«
»Die sind das gewöhnt. Es sind keine verweichlichten Mönche. Außerdem haben wir nichts an Bord.«
»Doch«, widersprach Viviane. »Die Stoffballen.«
Thoralf lachte auf, doch dann zog er verärgert die Augenbrauen zusammen. »Du willst allen Ernstes, dass ich meine Männer mit den kostbaren Stoffen verbinden lasse?«
Viviane nickte. Ihm in die Augen blicken mochte sie nicht. Zu ihrer Überraschung ging er zu den Ballen, schlitzte einen mit dem Messer – ihrem Messer – auf und deutete darauf. »Nur so viel, wie notwendig ist.«
Ein Lächeln flog über ihr Gesicht. So übel schien er nicht zu sein, zumindest hatte er ein Einsehen mit dem Leid seiner Männer.
»Gott wird es dir lohnen«, sagte sie.
»Gott? Odin hat uns schon geholfen, indem er uns siegen ließ. Wir werden ihm opfern, wenn wir angekommen sind.« Dann drehte er sich um und nahm wieder seinen Platz am Heck des Schiffes ein.
Viviane begann, die Wunden der Männer zu versorgen. Alle ließen es sich gefallen, manche sagten sogar ein paar Worte des Dankes. Viviane bedauerte, keine Kräuter zur Verfügung zu haben. Damit wären die Verletzungen schneller verheilt. So zurrte sie klaffende Wunden mit Stoffstreifen zusammen, deckte Wunden ab, schiente Brüche mit Bandagen. Dann ging sie zum Fass, um den Verwundeten Wasser zu geben. Über der Arbeit hatte sie ihre eigene Schwäche vergessen. Jetzt spürte sie ihren brennenden Hals wieder, die weichen Knie und das Zittern in ihren Gliedern. Sie legte mehrmals den Weg zwischen Fass und dem vorderen Teil des Schiffs
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