Wogen der Liebe
Tagen nicht blicken lassen. Er begleitete Yngvar auf die vereinzelt um Skollhaugen herum gelegenen Bauernhöfe, um nach dem Fortgang der Ernte zu schauen und die Abgaben an den Fürstenhof einzufordern. Eigentlich hätte das Yngvar auch allein gekonnt, es war seine Aufgabe. In den Jahren zuvor hatte er sie sehr pflichtbewusst wahrgenommen. Doch Thoralf war froh, einen Grund gefunden zu haben, sich von Skollhaugen fernzuhalten. Die Warnung seiner Mutter war ihm wohl bewusst, und er wusste auch, dass er Astrids Wunsch als Befehl zu betrachten hatte. Noch war er nicht Herr auf Skollhaugen und hatte sich in Respekt und ohne Widerspruch unterzuordnen. Zwar befürchtete er nicht, dass Yngvar ihm seine zukünftige Stellung streitig machen würde, aber das Recht des Erstgeborenen war auch nicht unumstößlich, sondern ein Jarl wurde von seinen Mannen gewählt. Erwies sich der eine Sohn nicht als würdig, die Stellung einzunehmen, konnte die Wahl durchaus anders ausfallen.
Er fühlte sich zu Viviane hingezogen, aber unter den Augen seiner Mutter war ein Treffen, ja ein Blickkontakt unmöglich. Er wollte vor dieser Sehnsucht fliehen, es gelang ihm jedoch nur schlecht.
Yngvar übersah geflissentlich Thoralfs inneren Konflikt. Die Brüder verstanden sich ohnehin nicht besonders gut, war doch Thoralf von Anfang an besser ausgebildet und bevorzugt worden. Er hatte sogar nach Björgolfs Unfall die drei Schiffe der Flotte übertragen bekommen. Yngvar kümmerte sich indes jahraus, jahrein um die Landwirtschaft, um die Zucht der Rinder, um die Instandsetzung und Erweiterung des Fürstenhofes, um die Bauernhöfe im Herrschaftsgebiet, um Fischerei und Jagd. So mehrte er den Wohlstand des Hofes beträchtlich. Doch es wurde wenig gewürdigt. Dass es keinen Hunger im Winter gab, dass das Vieh genug zu fressen hatte, dass die Ställe warm und dicht und die Vorratshäuser bis unters Dach gefüllt waren, dass alle Bewohner des Hofes ordentlich gekleidet waren und auch die Bauern keine Not litten, dafür gab es weder Jubelfeiern, große Empfänge, Ruhmesreden oder die Bewunderung der Nachbarfürsten. Dies alles gebührte Thoralf, wenn er von einer erfolgreichen Fahrt zurückkam und seine erbeuteten Schätze präsentierte.
Yngvar hatte sich mit diesen Gegebenheiten abgefunden, allerdings hielt sich seine Solidarität mit Thoralf in Grenzen. Er war sein Bruder, er würde einmal Herr auf Skollhaugen sein und Yngvar ihm untertan und Respekt schuldig. Mehr konnte Thoralf jedoch nicht von ihm erwarten. Und so würdigte er Thoralf keines Blickes, während sie nebeneinander herritten und die Bauernhöfe nacheinander kontrollierten. Thoralf brütete vor sich hin, mit steinerner Miene und abwesendem Blick. Für die Ernte interessierte er sich nicht.
Auf den Bauernhöfen lebten die meisten seiner Männer, die mit ihm auf Víking fuhren. Ihr Beuteanteil trug zum bescheidenen Wohlstand der Familien bei. Doch jetzt hatten sie mit dem Einbringen der Ernte zu tun. Sie begrüßten Thoralf mit lautstarken Rufen und ließen ihren Anführer hochleben, leerten gemeinsam einen Krug Met, doch dann kehrten sie zu ihrer Arbeit zurück, und Yngvar registrierte, was auf den einzelnen Höfen geerntet wurde und wie hoch der Anteil ihrer Abgaben sein würde.
Währenddessen blickte Thoralf sich gelangweilt um. In der Ferne bemerkte er zwei Frauen, die Laub sammelten. Zuerst glaubte Thoralf, dass es sich um Mägde des Bauernhofes handelte, doch dann sah er die roten Haare der beiden. Sie trugen keine Kopftücher, wie es bei den Mägden auf den Höfen häufig üblich war. Zwei Frauen mit rotem Haar … Sein Herz begann heftiger zu schlagen. Die eine war klein und dünn. Das war ohne Zweifel Raudaborsti, der lustige Troll von Skollhaugen. Und die andere …
Thoralf wurde unruhig. Er schaute zu Yngvar, doch der zählte das Vieh des Bauern und würde anschließend die abzuerntenden Felder besichtigen. Kurzentschlossen schwang er sich auf seinen Falben und trabte mit hängendem Zügel auf die beiden Laubsammlerinnen zu. Sie blickten auf, als sich der Reiter näherte.
Thoralf lächelte. »Was für ein schöner Tag«, begrüßte er die beiden, die sofort die Köpfe neigten. »Ich sehe, ihr wart fleißig, und die Körbe sind fast gefüllt. Ich erlaube euch, eine Pause einzulegen.«
»Danke, Herr«, murmelten sie.
»Raudaborsti, geh zum Hof und lass dir eine Schüssel Milch zur Stärkung geben«, sagte er und blinzelte der Kleinen zu. »Damit du wieder zu Kräften
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