Wogen der Liebe
Der Hügel war mit Gras bewachsen, und nichts deutete darauf hin, dass es sich nicht um eine natürliche Geländeerhebung handelte. Außer der Öffnung.
Drinnen befand sich ein kleiner Raum, dessen Sinn sich Viviane entzog. Vielleicht hatten Jäger hier Schutz gesucht, wenn sie dem Wild tagelang folgten. Es war dunkel darin, und es roch nach Erde. Ihre Befürchtung, es könnte auch ein wildes Tier hier Schutz gesucht haben, bewahrheitete sich zum Glück nicht. Der Wind hatte Laub hereingeweht, das trocken und weich war. Sie brauchte nicht auf dem nackten Boden zu schlafen. So gut es ging, rollte sie sich in dem Laubhaufen zusammen und versuchte zu schlafen. Die Erschöpfung überwältigte sie, aber ihre Sinne blieben geschärft. Sie lauschte auf jedes Geräusch. Die Bäume ächzten und knackten, es raschelte und wisperte. Zum ersten Mal bedauerte sie, dass kein Tranlicht über der Tür brannte, um böse Geister fernzuhalten. Sie tastete nach ihrem Anhänger, den sie unter dem Kleid trug. Kurz bevor der Schlaf sie übermannte, betete sie zu dem fremden Gott, er möge sie beschützen.
Es war schon heller Tag, als Viviane erwachte. Wirre Träume hatten sie gequält, und sie war überzeugt, dass die Geister der Nacht sie heimgesucht hatten. Immer wieder hatte sie Asgeirs grinsendes Gesicht gesehen, seine stechenden Augen und seine verwachsene Gestalt, sie sah Skollhaugen und viele Menschen, darunter Hoskuld und Sven in ihren besten Kleidern. Sie sah Gunnardviga neben Astrid sitzen. Sie schauten unbeteiligt zu, wie Dalla mit dem Messer auf sie einstach. Sie schrie und schrie, während sich Thoralf besorgt über sie beugte. Viviane sah Blut, viel Blut. Und dann sah sie Thoralf neben sich liegen. Er war tot!
Schweißnass erwachte sie und benötigte einige Augenblicke, um sich klarzuwerden, wo sie sich befand. Eilig verließ sie den unheimlichen Hügel. Die kalte Morgenluft brachte sie endgültig zur Besinnung. Die Träume hatten ihr gezeigt, dass diese Bedrohung existierte. Und niemand schien sie zur Kenntnis nehmen zu wollen.
Vivianes Magen knurrte, doch sie verzichtete darauf, einen der drei Äpfel zu essen, die sie noch besaß. Sie wusste nicht, wie lange sie noch laufen musste. Und wie sollte sie Yngvar überhaupt finden?
Der Wald wurde licht und machte einer weiten Hochebene Platz. Gelbes, trockenes Gras raschelte im Wind. Unter ihren Füßen gab der Boden nach. Erschrocken wich sie zurück. In den Fußstapfen sammelte sich dunkles Wasser. Sie befand sich am Rand eines Moors. Ratlos schaute sie sich um. Der Wind heulte unheimlich über die Fläche, die sie kaum überblicken konnte. Hier und da standen einige verkrüppelte Bäume, lange weiße Graswedel beugten sich dem Wind. Noch einmal versuchte Viviane, die Grasfläche zu überqueren, doch schon nach wenigen Schritten gab sie es auf. Sie sank bis zu den Knien ein. Es gluckste im Boden, die kalte Nässe griff wie mit eisigen Fingern um ihre Beine. Krampfhaft hielt sie sich an einem dicken Grasbüschel fest, um nicht tiefer zu sinken. Panik erfasste sie. Aus Raudaborstis Erzählungen wusste sie, wie gefährlich ein Moor war, dass unheimliche Geister darin hausten und dass man nur an diesen Ort ging, um den Göttern zu opfern. Was einmal im Moor versank, das sah man nie wieder. Auf den Knien rettete sich Viviane wieder auf festen Boden. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als das Moor weiträumig zu umgehen.
Gegen Mittag erreichte sie den Fluss. Schon von weitem hörte sie das strömende Wasser, ein seltsames Rauschen und Dröhnen. Der Wald endete plötzlich, ein schmaler Streifen aus Kies und grobem Gestein begrenzte den Fluss. Er war breit, sehr breit, und das kristallklare Wasser sprudelte über die in seinem Bett liegenden großen Steine. Noch nie hatte Viviane so einen gewaltigen Fluss gesehen, und sie blieb beeindruckt stehen. Er schien nicht tief zu sein, jedenfalls kam es ihr so vor. Doch überqueren konnte sie ihn nicht. Auch Yngvar hatte ihn sicher nicht überquert, und mit einem Boot war das wilde Wasser nicht befahrbar. Unschlüssig blickte Viviane nach beiden Seiten. In welche Richtung sollte sie gehen? Wo sollte sie Yngvar finden?
Sie beschloss, es zunächst flussabwärts zu versuchen. Das Gehen auf dem groben Schotter fiel ihr schwer. Ständig strauchelte sie. Schon bald lösten sich ihre Schuhe auf. Notdürftig versuchte sie, sie zusammenzubinden. So kam sie nur langsam vorwärts. Ihre Kräfte ließen nach, dafür packte sie die Verzweiflung. Wie
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