Wohin das Herz uns trägt

sagte Ellie schließlich. »Das ist zu weit weg, er kann sie nicht hören.«
    Julia ließ Ellie stehen, ging zu Alice und berührte sacht ihre Schulter.
    Das Mädchen drehte sich um und sah Julia an, und ihre Augen waren so dunkel und unergründlich, als reflektierten sie den endlosen Nachthimmel.
    Julia kniete sich ins feuchte Gras. »Sprich mit mir, Alice. Was fühlst du in diesem Augenblick? Du brauchst keine Angst zu haben. Du bist hier in Sicherheit.«
    * * *
    Die Nacht ist voll von Geräuschen. Manchmal sind sie so laut, dass Mädchen Schwierigkeiten hat, die Stille zu hören, die darunterliegt. So war es schon immer. Sie muss hart arbeiten, um die Tiere, die Insekten, den Wind, die Blätter nicht zu hören. Sie muss die Augen schließen und ihren eigenen Herzschlag hören, bis nichts anderes mehr da ist. Selbst in der Dunkelheit sieht sie zu viel - eine Spinne, die auf der Erde neben ihren Füßen vorbeikrabbelt, ein Krähenpärchen, das sie von dem violetten Baum beobachtet, einen Nachtfalter, der am Fluss entlangflattert. In der Ferne hört sie die raschelnde Bewegung einer Katze auf der Jagd.
    Wenn die beiden Sie doch aufhören würden, so laut zu sprechen, dann könnte Mädchen wieder atmen. Die spürt eine Enge in der Brust, die ihr Angst einflößt. Hier draußen am Waldrand müsste sie sich sicher fühlen. Jetzt könnte sie weglaufen. Wenn sie wachsam ist und dem Fluss folgt, könnte sie ihre Höhle wiederfinden.
    So viele Male hat sie an dem trügerischen Kasten gestanden, den Arm in die grün duftende Luft gehalten und sich eine solche Gelegenheit ausgemalt. Den Augenblick, wenn Sonnenhaar wegschauen und Mädchen weglaufen würde.
    Aber jetzt möchte sie nicht mehr weg.
    Sie sieht auf ihre Füße hinunter. Die stehen so fest gepflanzt wie Baumwurzeln. Hier möchte sie bleiben. Bei Sonnenhaar.
    »Sprichmitmirälliss.«
    Da ist sie, Sonnenhaar. Vor ihr, streckt Mädchen die Hand hin. Im Licht des rundgesichtigen Mondes ist alles an Sonnenhaar weiß.
    Mädchen hat Angst und ist verwirrt. Was, wenn Sonnenhaar gar nicht will, dass Mädchen bleibt? Vielleicht will Sonnenhaar sie jetzt gehen lassen?
    Aber sie möchte nicht zurück in die kalte hungrige Dunkelheit ihrer Höhle. Vielleicht ist Er dort ...
    Sonnenhaar beugt sich zu ihr herunter. »Kannstdumitmirsprechenälliss?«
    Die andere Sie, die große, nachthaarige Sie, sagt etwas aus dem Schatten. Diese Sie hat keine Farbe um sich, keinen Geruch. Mädchen spürt nicht, was sie fühlt oder denkt, aber sie weiß, dass es nichts Gutes ist.
    Irgendwas stimmt nicht.
    »Lasses. Vielzugruslig«, sagt Nachthaar. Dann schaudert sie, als wäre ihr kalt, dabei ist die Kälte noch viele, viele Monde entfernt.
    »Gehruhig. Ichbleibe.« Sonnenhaar sieht Mädchen an und lächelt. »Dumusstmitmirsprechenälliss. Verstehstduirgendwasvondemwasichsage?«
    Mädchen hört etwas. Es schleicht sich an sie heran wie ein jagender Wolf. Sie runzelt die Stirn und versucht es zu verstehen.
    Du musst.
    Sprechen.
    Möchte Sonnenhaar, dass Mädchen Töne macht, die Dinge bedeuten?
    Nein.
    Das kann nicht sein. Das ist böse.
    Langsam verschwindet Sonnenhaars Lächeln. Die Farbe ihrer Augen scheint sich von Grün in ein blasses Grau zu verwandeln. Die Farbe des Verlorenseins, des Wassers, das einem aus den Augen läuft. Schließlich macht Sonnenhaar einen traurigen, einsamen Ton und richtet sich auf.
    »VielleichthatteichdochrechtEllie. Vielleichtbinichnichtdierichtige,diediesemkindhelfenkann.«
    Jetzt sieht es aus, als sei Sonnenhaar ganz weit weg von Mädchen und entferne sich immer mehr. Bald ist sie so weit weg, dass Mädchen sie nicht mehr finden kann.
    »Dumusstmitmirsprechenkleines.« Sonnenhaar holt tief Luft. »Bitte.«
    Bitte.
    Von irgendwoher erinnert sich Mädchen an diesen Klang. Er ist etwas Besonderes, wie die erste Knospe im Frühling.
    Sonnenhaar möchte , dass Mädchen die verbotenen Laute macht.
    Langsam steht Mädchen auf. Vor lauter Angst ist ihr ganz schwindlig.
    Jetzt geht Sonnenhaar weg.
    Sie wird Mädchen verlassen.
    Die Angst treibt Mädchen voran. Sie folgt Sonnenhaar, packt ihre Hand und hält sie so fest, dass es wehtut.
    Sonnenhaar dreht sich zu ihr um und geht auf die Knie. »Inordnungälliss. Inordnungälliss. Ichwilldichnichtverlassen.«
    Verlassen. Aus dem Chaos der Laute hört Mädchen das heraus. So deutlich wie das Rauschen eines Flusses.
    Mädchen sieht Sonnenhaar an. Sie hält ihre Hand fest. Eigentlich möchte sie wegschauen oder die Augen