Wohin das Herz uns trägt
ihre Stimme klang. Es war unprofessionell, so gerührt zu sein, aber sie konnte nichts dagegen machen. »Lass alles raus. Das ist deine Art zu weinen, nicht wahr?«
Dann wurde das Heulen leiser und hörte schließlich ganz auf. Alice kniete im Gras, so reglos, als wäre sie mit der Natur verschmolzen. Doch plötzlich kam Bewegung in sie, sie bückte sich und riss in der Dunkelheit einen winzigen gelben Löwenzahn aus. Julia hatte die Blume nicht einmal gesehen. Mit einer einzigen Bewegung trennte sie die Wurzel vom Stiel und steckte sie in den Mund.
»Das ist also die Welt, die du kennst, ja?« Julia versuchte, Alice dazu zu bewegen, dass sie ihr Hosenbein losließ und frei herumlaufen konnte, doch Alice wollte ihren Griff partout nicht lockern.
»Ich lass dich nicht allein, aber das kannst du ja nicht wissen, stimmt‘s? Jemand hat dich da draußen im Wald ausgesetzt, richtig?«
In der Stille, die auf die Frage folgte, krächzte erst eine Krähe, dann rief eine Eule. Innerhalb weniger Sekunden hörte man überall vom Waldrand, der die Grenze des Grundstücks markierte, Vogelstimmen. Unsichtbare Zweige knarzten und ächzten, die Tannennadeln raschelten.
Alice imitierte die Vogelrufe perfekt, und die Vögel antworteten ihr.
In der Dunkelheit dauerte es einen Moment, bis Julias Augen wahrnahmen, was passierte.
Dann sah sie, dass der Garten voller Vögel war, die einen weiten Kreis um das Kind bildeten.
»Großer Gott...« Es war Ellies Stimme, die irgendwo aus den Schatten kam.
Das Geräusch erschreckte die Vögel, und sie flogen weg, ihr Flügelschlag schnell und wie ein Hauch.
In der Ferne heulte ein Wolf. Alice antwortete.
Ein Schauer lief Julia über den Rücken, mit einem Mal fröstelte sie. »Beweg dich jetzt bloß nicht«, sagte sie zu Ellie, als sie Blätter rascheln hörte.
»Aber ...«
»Und kein Wort.«
Alice zupfte an Julias Hand. Zum ersten Mal wollte sie führen. Julia lächelte. »Das ist gut, Kleines. Ich folge dir.«
Eine Wolke löste sich vom Mond und trieb über den Himmel. Hinter ihr beschien der Mond das Gras und schimmerte auf dem Fluss. Plötzlich war alles in silbernes Licht getaucht, einfach magisch.
Alice deutete zu den Rosenbüschen mit den langen, nackten Trieben, die unbedingt zurückgeschnitten werden mussten. Auf einmal machte sie sich los und näherte sich den Pflanzen mit einem Selbstvertrauen, das Julia noch nie an ihr gesehen hatte. Sie richtete sich auf, reckte das Kinn, statt wie sonst die Schultern hochzuziehen und einen Arm über den Bauch zu legen. Das Mondlicht glänzte auf ihrem Haar, das schwarz war wie eine Krähenschwinge, mit einem bläulichen Schimmer.
Die Nacht war verzaubert, Sterne funkelten am Himmel. Julia hätte schwören können, dass sie das Meer rauschen hörte. Langsam wich sie zurück, um Alice diesen Bereich ihrer Welt frei erkunden zu lassen. Dann spürte sie, dass ihre Schwester sich ihr näherte.
Neben ihr blieb sie stehen. »Woher weißt du, dass sie nicht wegläuft?«
»Ich weiß es nicht. Allerdings setze ich darauf, dass ihre Bindung an mich sie zurückhält. Da draußen gibt es für sie zu viele schlechte Erinnerungen.«
»Die Untertreibung des Jahres.«
Julia sah zu, wie Alice auf den Rosenbusch zuging, und überlegte, wie das Mädchen wohl reagieren würde, wenn sie sich an einem Dorn verletzte. Würde sie bei ihr Trost und Hilfe suchen? Hatte sie inzwischen begriffen, dass sie nicht mehr alleine war, oder würde sie sich von diesem fremden Ort betrogen fühlen und sich wieder in die Welt zurückziehen, die sie kannte?
»Sei vorsichtig, Alice«, sagte Julia. »Da sind Dornen.«
Das Mädchen griff nach einer einzelnen rosaroten Knospe und pflückte sie ab.
Sie streichelte die Blüte mit einer unglaublichen Zärtlichkeit, wandte sich dann langsam ab und ging hinunter zum Fluss. Als sie eine kleine Landzunge erreichte, blieb sie wieder stehen.
Julia und Ellie folgten ihr, beide bereit, Alice sofort zu retten, falls sie Anstalten machte, ins Wasser zu springen.
Doch sie ging nur weiter am Ufer entlang, bis zu der Stelle, wo das Gras zertrampelt und braun war. Dort fiel sie erneut auf die Knie und begann leise zu heulen.
»Sie ruft ihren Wolf«, stellte Julia fest. »Sie erzählt ihm ihre Geschichte und dass sie ihn vermisst.«
Mit angehaltenem Atem warteten sie auf eine Antwort, aber sie hörten nur das Rauschen der Bäume über ihren Köpfen und das kehlige Murmeln des Flusses.
»Er ist bei den anderen Wölfen im Tierpark«,
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