Wohin das Herz uns trägt
Jugendfürsorge thronte steif auf dem Sofa, als versetzte sie allein der Gedanke eines verirrten Hundehaars auf ihrer grauen Wollhose in milde Panik.
Neben ihr saß Julia, ruhig und entspannt in winterlichem Weiß. »Was möchten Sie denn noch gerne wissen, Miss Wharton?«
Das Lächeln der Frau war genauso nervös wie alles andere an ihr, es kam und ging, als ließe es sich aus- und anschalten. Eigentlich sah Ellie nur das Aufblitzen schiefer Zähne. »Nennen Sie mich Helen. Und ich habe nur noch ein paar abschließende Fragen.«
Julia lächelte kameratauglich. »Schießen Sie los.« Helen legte den Stift beiseite und spähte zu Alice hinüber, die in einer Ecke saß und spielte. Nicht ein einziges Mal hatte sie Blickkontakt mit Helen aufgenommen. Als sie der Frau vorgestellt worden war, hatte sie sogar angefangen zu heulen und war weggelaufen. Nachdem sie dann fast eine Stunde hinter dem Ficus gekauert hatte, war sie aus ihrem Versteck hervorgekommen, aber nur, um das Blumenarrangement zu verspeisen. »Offensichtlich ist diese Umgebung absolut akzeptabel für sie. Man hat Ihrem Antrag auf temporäre Pflegschaft für ... für das minderjährige Kind stattgegeben, und ich kann keine Verschlechterung feststellen, die einen Widerruf unserer Empfehlung anzuraten scheint. Wie Sie wiederholt betont haben, gedeiht das Kind in Ihrer Obhut gut. Meine Sorge gilt eigentlich eher Ihnen, Dr. Cates. Darf ich offen sprechen?«
»Mir liegt sehr viel daran, Ihre Meinung zu hören«, antwortete Julia.
»Fraglos ist das Kind grundlegend geschädigt. Vielleicht haben Sie recht, und die Kleine ist weder autistisch noch auf andere Weise geistig behindert, aber sie weist doch starke Defizite auf. Ich bezweifle, dass sie jemals normal werden wird. Leider erleben wir allzu oft, dass Eltern großherzig und voller Hoffnungen ein Kind mit besonderen Bedürfnissen adoptieren, nur um später festzustellen, dass sie sich zu viel zugemutet haben. Der Staat hat eine Vielzahl wunderbarer Pflegeeinrichtungen für Kinder wie ... wie dieses.«
»Es gibt keine Kinder wie Alice«, entgegnete Julia. »Meiner Ansicht nach ist das, was sie erlebt hat, absolut einmalig, daher haben wir auch keine Möglichkeit, ihre Zukunft vorherzusagen. Wie Sie wissen, bin ich durchaus qualifiziert, sie als meine Patientin zu behandeln, aber ich bin auch bereit und fähig, sie wie eine Mutter zu lieben. Was könnte besser sein für dieses Kind?«
Helens Lächeln kam spät und war dünn wie fettfreie Milch. »Die Kleine hat wirklich Glück, Sie gefunden zu haben.« Sie warf Alice, die jetzt am Fenster stand und mit einem Eichhörnchen »redete«, wieder einen raschen Blick zu. Schließlich stand sie auf und streckte Julia die Hand entgegen. »Ich sehe keinen Grund, weshalb die Situation noch einmal überprüft werden müsste. Ich werde daher in meinem Bericht die Unterbringung bei Ihnen ohne jede Einschränkung empfehlen.«
»Danke.«
Als die Sozialarbeiterin endlich gegangen war, verschwand auch Julias Lächeln.
Alice rannte zu ihr und warf sich in ihre Arme. »Angsss«, wisperte sie.
»Ich weiß, Schätzchen.« Julia hielt sie fest und strich ihr zärtlich übers Haar. »Du magst keine Leute mit Brille. Und sie hat auch noch eine Menge Glitzerschmuck getragen, stimmt‘s? Trotzdem hättest du sie mal anlächeln können.«
»Frau riecht.«
Ellie lachte. »Da muss ich Alice allerdings recht geben.« Sie ging zum Garderobenhaken neben der Haustür und schnappte sich ihre Jacke. »Ich rufe John an und sage ihm, dass dem Bericht fertig ist. Dann kann er einen Termin für die Anhörung suchen und mit der Vorladung zur Aufhebung der Elternrechte anfangen.«
Ohne Alice abzusetzen, ging Julia zu ihr. »Einmal pro Woche in allen regionalen Zeitungen, drei Wochen lang, ja? So machen wir es überall bekannt.«
»Sie haben eine Frist von sechzig Tagen, um eine Klageeinlassung einzureichen. Danach steht dir nichts mehr im Wege.«
Sie.
Alices biologische Familie.
Obwohl sie nicht darüber sprachen, wussten Julia und Ellie beide, dass Alice nicht mit anderen Kindern zu vergleichen war, die verloren gegangen oder ausgesetzt worden waren. Möglicherweise träumte irgendwo irgendjemand von ihr, erinnerte sich an sie, suchte aber nicht mehr nach ihr. Selbst nach vielen Jahren konnte noch jemand auftauchen und einen berechtigteren Anspruch auf das Herz des Kindes erheben als Julia.
Ellie war klar, dass Julia darüber nachgedacht, sich den Kopf zermartert und schließlich
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