Wohin das Herz uns trägt

»Sie kann ohne mich nicht überleben.«
    »Sehen Sie, ich war mehrere Jahre hinter Gittern. Ich habe ein großes Haus am Lake Washington und genug Geld, um die beste Pflege für sie zu engagieren, also reden wir nicht lange um den heißen Brei herum. Ich muss der Welt zeigen, dass sie noch lebt, deshalb will ich sie. Und zwar sofort.«
    Julia starrte ihn schockiert an. »Wenn Sie glauben, ich überlasse Alice einem Mörder, dann sind Sie verrückt.«
    »Wer zum Teufel ist Alice?«
    »So haben wir sie genannt. Wir wussten ihren richtigen Namen nicht.«
    »Na ja, jetzt wissen Sie ihn. Sie ist meine Tochter, und ich bin hier, um sie nach Hause zu holen.«
    »Sie können das unmöglich ernst meinen. Soweit wir wissen, stecken Sie doch hinter der ganzen Geschichte. Sie wären beileibe nicht der Erste, der sein Kind opfert, um seine Frau loszuwerden.«
    Sie sah etwas in seinen Augen aufblitzen. Er beugte sich zu ihr. »Ich weiß auch, wer Sie sind, Frau Psychologin. Ich bin hier nämlich nicht der Einzige mit einer dunklen Vergangenheit, nicht wahr? Legen Sie wirklich Wert auf eine Auseinandersetzung in aller Öffentlichkeit?«
    »Jederzeit«, antwortete sie fest. »Sie machen mir keine Angst.«
    Er baute sich bedrohlich vor ihr auf und flüsterte: »Sagen Sie Brittany, dass ich sie holen komme.«
    »Das werde ich nicht zulassen.«
    Inzwischen stand er so dicht vor ihr, dass sie seinen heißen Atem an der Wange spürte. »Wir wissen doch beide, dass Sie mich nicht aufhalten können. Die Gerichte in Washington sind in jedem Fall für Familienzusammenführung. Wir sehen uns also vor Gericht.«
    * * *
    Als er endlich weg war, sank Julia auf einen kalten, harten Stuhl. Sie bebte am ganzen Körper. George Azelle hatte recht - im Staat Washington entschieden die Richter fast immer zugunsten der biologischen Familie.
    »Möchtest du darüber reden?«, fragte Ellie.
    »Reden wird auch nichts helfen.«
    Aber nachdenken.
    Sie holte tief Luft. »Ich benötige Informationen über seinen Fall.«
    »Das hier hat er mir gegeben.« Ellie schob einen Papierstapel über den Tisch.
    Julia nahm ihn und versuchte zu lesen. Aber ihre Hände zitterten so, dass die Buchstaben in heillosem Durcheinander über das weiße Papier tanzten.
    »Jules ...«
    »Ich brauch mal einen Moment«, entgegnete Julia und hörte selbst den verzweifelten Unterton in ihrer Stimme. Sie musste ihre ganze Selbstbeherrschung aufbringen, um nicht zu schreien oder zu weinen, und wenn sie zu tief in die traurigen Augen ihrer Schwester blickte oder tröstende Worte hörte, versank sie womöglich völlig in der Hoffnungslosigkeit. »Bitte.«
    Sie konzentrierte sich auf die Dokumente, die das Skelett der ganzen Geschichte darstellten. Das Original des Antrags auf Klageabweisung, den Azelles Anwalt nach Ende der Beweisaufnahme eingereicht hatte, die Ablehnung des Antrags, die Aufhebung der Ablehnung durch das Berufungsgericht, die Erklärung des Obersten Gerichtshofs, dass die Ablehnung und die Klageabweisung angenommen wurden. Für Julia aber war der Entscheid über hinreichenden Tatverdacht am wichtigsten, denn hier wurden die Fakten des Falls umrissen.
    Am 13. April 2002 um etwa 9.30 Uhr am Vormittag tätigte George Azelle einen Anruf bei der Polizeibehörde von King County, um zu melden, dass seine Frau, Zoe Azelle, sowie seine anderthalbjährige Tochter Brittany seit über vierundzwanzig Stunden vermisst wurden. Die Polizeibehörde von Seattle reagierte unverzüglich und schickte zwei Streifenbeamte zum Haus der Familie Azelle, 16402 Lakeside Drive auf Mercer Island. Zunächst wurde nur das County durchsucht, dann wurde die Suche auf den ganzen Bundesstaat ausgeweitet. Gruppen freiwilliger Helfer bildeten sich, Suchtrupps und Nachtwachen wurden organisiert.
    Die in diesem Zeitraum durchgeführten Ermittlungen ergaben, dass Mrs Azelle zum Zeitpunkt ihres Verschwindens eine außereheliche Affäre hatte. Sie hatte bereits die Scheidung eingereicht. Auch Mr Azelle unterhielt eine Liaison mit seiner persönlichen Assistentin Corinn Johns.
    Im Zuge der Ermittlungen stellte die Polizei Folgendes fest:
    Etwa im November 2001 reagierte die Polizei auf einen Anruf wegen nächtlicher Ruhestörung, anscheinend verursacht durch einen Ehestreit. Da die Beamten bei Mrs Azelle Prellungen und blaue Flecke feststellten, nahmen sie Mr Azelle fest. Die Anklage wurde fallengelassen, als Mrs Azelle sich weigerte, gegen ihren Mann auszusagen.
    Am Abend des 11. April 2002 berichtete der Nachbar