Wohin das Herz uns trägt
antwortete im gleichen Ton.
Am Maschendrahtzaun trafen sie sich, das kleine Mädchen im schwarzen Wollmantel mit den vertauschten großen Stiefeln an den Füßen und der Wolf, der inzwischen fast ausgewachsen war.
Floyd ging zum Tor. Augenblicklich war Alice neben ihm, auf und ab hüpfend vor Aufregung.
»Aufmachen. Spielen. Mädchen.«
Er steckte den Schlüssel ins Schloss, und als es klickte, wandte er sich an Julia. »Sind Sie sicher, dass es ungefährlich ist?«
»Ganz sicher.«
Langsam öffnete er das Tor.
Alice schlüpfte hinein, und sofort begannen sie und der Wolf wie zwei Welpen aus demselben Wurf im Schnee herumzutollen. Jedes Mal, wenn das Tier ihr über die Wange leckte, gluckste Alice laut und vergnügt.
Floyd schloss die Tür wieder, blieb aber stehen und sah den beiden nachdenklich zu. »Das ist das erste Mal, dass er aufgehört hat zu heulen, seit ich ihn bekommen habe.«
»Sie hat ihn auch vermisst«, sagte Julia.
»Was meinen Sie ...?«
»Ich habe keine Ahnung, Floyd.«
Sie schwiegen und schauten dem Mädchen und dem Wolf zu. »Es ist wirklich erstaunlich, was du aus ihr gemacht hast«, sagte Max zu Julia.
Sie lächelte. »Kinder sind eben unverwüstlich.«
»Nicht immer«, erwiderte er so leise, dass sie es um ein Haar nicht mitbekommen hätte.
Doch ehe sie nachfragen konnte, was er damit meinte, drang plötzlich der Klang von Sirenen an ihr Ohr. »Hörst du das auch?«, fragte sie. Er nickte.
Anfangs war das Geräusch noch sehr weit weg, aber es kam beständig näher.
Als man die ersten Strahlen des Blaulichts durch den dunstigen Schnee blitzen sah, kam Bewegung in Floyd. Er packte Alice am Mantel, zog sie aus dem Gehege und knallte die Tür hinter ihr zu.
Alice fiel auf die Knie und heulte erbärmlich. Unterdessen fuhr der Streifenwagen auf den Hof und hielt, während das Licht weiter in abgehacktem Rhythmus zuckte. Ellie stieg aus und steuerte direkt auf das wartende Grüppchen zu. »Er ist gekommen«, sagte sie ohne irgendeine Erklärung.
»Wer?«, fragte Julia, aber als Ellie Alice ansah, wusste sie sofort Bescheid. »Alices Vater.«
* * *
Max trug Alice ins Haus. Sie war leicht wie eine Feder.
Er versuchte nicht daran zu denken, wie selbstverständlich es ihm noch immer vorkam, ein Kind zu tragen, aber manche Erinnerungen waren einfach zu tief eingegraben, sie ließen sich nicht auslöschen, und manche Bewegungen waren so normal wie Luftholen.
Er ging zum Sofa, wo er sie zum Feuermachen absetzen wollte.
Doch sie ließ ihn nicht los, ihre Arme hielten seinen Hals unerbittlich fest umschlungen. Die ganze Zeit, während er im Haus umherging und das Feuer entfachte, heulte sie ununterbrochen leise vor sich hin, dass es ihm fast das Herz brach.
Schließlich setzte er sich mit ihr aufs Sofa. Sie hatte die Augen fest geschlossen, ihre Wangen waren noch von der Kälte gerötet. Der Laut, den sie hervorbrachte und der inzwischen eher ein Wimmern als ein Heulen war, war der reinste Ausdruck eines unendlichen Verlusts. Zu viel Gefühl, zu wenig Worte.
Schau weg , dachte er. Leg einen Film ein oder dreh die Musik auf.
Er lehnte sich zurück und schloss die Augen. Sofort wusste er, dass das ein Fehler war. Er hörte ein anderes Kind weinen, das große Krokodilstränen vergoss. Mein Fisch schwimmt nicht mehr; Daddy. Mach ihn wieder heil.
Max umfasste Alice fester. »Alles wird gut, Kleines. Lass es raus. Das ist am besten.«
Beim Klang seiner Stimme sog sie heftig die Luft ein und sah zu ihm empor. Mit einem Mal begriff er, dass er kein Wort gesprochen hatte, seit sie vom Tierpark aufgebrochen waren. »Julia musste mit Ellie zur Polizeiwache. Die beiden sind bald wieder da.«
Mit vollkommen trockenen Augen blinzelte sie ihn an. Er fragte sich, ob sie eigentlich weinen konnte. Der Gedanke, dass sie womöglich nicht in der Lage war, ihrem Kummer auf diese Art Ausdruck zu verleihen, versetzte ihm einen Stich.
»Dschulie nicht Mädchen allein?«
»Nein, sie lässt dich nicht allein. Sie kommt bald zurück.«
»Mädchen heim?«
»Ja.« Er strich ihr eine widerspenstige, noch feuchte Locke hinters Ohr.
»Wolf?« Ihre Lippen zitterten. Die Frage war so vielschichtig, und doch genügte ihr ein einziges Wort.
»Wolf geht es auch gut.«
Sie schüttelte den Kopf, und plötzlich schien sie viel zu alt, zu erfahren für ihr Gesicht zu sein. »Nein. Falle. Böse.«
»Er braucht seine Freiheit«, erwiderte Max, der sie problemlos verstand.
»Wie Vögel.«
»Du weißt, wie es ist,
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