Wohin das Herz uns trägt
benötigte. Sie würde nur an Alice denken, an Alice und wie sie die Kleine beschützen konnte.
»Engagier einen Privatdetektiv«, sagte sie zu Ellie. »Geh Azelles Akte noch einmal durch, seine ganze Vergangenheit, wenn es sein muss, bis zurück in die Grundschule. Irgendwo, irgendwann hat der Mistkerl garantiert jemanden verprügelt oder Drogen verkauft oder ist betrunken Auto gefahren. Find es raus. Wir müssen nicht beweisen, dass er ein Mörder ist, sondern nur, dass er sich nicht als Vater eignet.«
* * *
Als sie heimkamen, war es erst kurz nach fünf Uhr, doch es fühlte sich an, als wäre es mitten in der Nacht. Wolken verdunkelten den Himmel. Alles war von einer dünnen Schneeschicht bedeckt - die Wiese, das Dach, das Verandageländer. In der weißen Umgebung schien das Haus förmlich zu glühen.
Ellie parkte nah beim Haus. Keine der beiden Frauen machte Anstalten auszusteigen.
»Ich werde es ihr nicht sagen«, stellte Julia schließlich fest, starrte dabei aber weiter geradeaus.
Ellie seufzte. »Wie willst du es ihr je beibringen? Sie hasst es ja schon, wenn du rausgehst, um Frühstück zu machen.«
So weit wollte Julia nicht denken.
Mädchen nicht alleinlassen, Dschulie.
Sie öffnete die Autotür und trat in den Schnee hinaus, doch sie spürte die Kälte kaum.
Langsam stieg sie die Stufen hinauf, aus dem Schnee aufs nasse Holz, und machte die Haustür auf. Licht und Wärme schlugen ihr entgegen. Dann sah sie Alice, zusammengerollt auf Max‘ Schoß. Als Julia hereinkam, blickte sie auf und lächelte breit.
»Dschulie!«, kreischte sie, schlüpfte aus Max‘ Armen und rannte ihr entgegen.
Julia fing sie auf und drückte sie fest an sich. »Hallo, mein Kleines«, sagte sie leise und versuchte zu lächeln. Hoffentlich sah es nicht so bemüht aus, wie es sich anfühlte.
Alice sah sie stirnrunzelnd an. »Traurig?«
»Froh, wieder zu Hause zu sein«, antwortete Julia ausweichend.
Erleichterung leuchtete in Alices Augen auf. Sie umarmte Julia noch einmal und küsste sie auf den Hals.
Jetzt kam auch Ellie auf sie zu und strich Alice übers Haar. »Hallo, kleines Mädchen.«
»Hallo, Lellie«, sagte sie mit leiser, glücklicher Stimme.
Mittlerweile war Max aufgestanden. Im Gegenlicht des Feuerscheins sah sein Gesicht dunkel aus. »Julia?«, sagte er. Man konnte kaum überhören, dass er sich Sorgen machte.
Um ein Haar verlor sie die Fassung. Sie wich seiner Berührung so geschickt aus, dass es ein bloßer Zufall hätte sein können, merkte aber sofort, dass sie ihn nicht an der Nase herumführen konnte. Eins wusste sie inzwischen über Max: Er erkannte, wenn einem das Herz wehtat, er verstand, wie sich das anfühlte, wie es schmeckte - einfach alles. Und jetzt las er es in ihrem Gesicht. Sie konnte es nicht verbergen nicht mit Alice auf dem Arm und George Azelles Umschlag in der Jackentasche.
Aber wenn Max sie nun anfasste, würde sie in Tränen ausbrechen, und das wollte sie nicht. Weiß Gott, sie brauchte ihre ganze Kraft für das, was ihr noch bevorstand.
»Er will sie zurückhaben.«
Das traurige Verständnis in seinen Augen war nahezu unerträglich. Langsam kam er auf sie zu, und eine Sekunde lang dachte sie, er würde sie küssen. Stattdessen sagte er nur: »Ich warte heute Abend auf dich.«
»Aber ...«
»Es ist egal, um wie viel Uhr du kommst. Aber ich glaube, du brauchst mich.«
Das konnte sie nicht abstreiten.
»Ich werde aufbleiben«, fügte er noch hinzu, und diesmal wartete er keine Antwort ab, sondern sagte allen auf Wiedersehen und ging.
Schweigen senkte sich herab.
»‘süss, Max«, sagte Alice schließlich. »Dschulie nich gehn?«
Julia schluckte schwer und spürte die aufsteigenden Tränen. Aber sie hielt Alice ganz fest. »Nein, ich lass dich nicht allein, Alice«, sagte sie und betete, dass es wahr werden würde.
* * *
Den Rest des Abends bewegte sich Julia wie durch einen Nebel. Alice schien zu spüren, dass etwas nicht stimmte, und blieb ihr noch dichter auf den Fersen als gewöhnlich.
Um neun waren sie beide völlig erschöpft. Julia badete das kleine Mädchen, flocht ihr die Haare und deckte sie warm zu. Als sie jedoch zusammengekuschelt auf der schmalen Matratze lagen und Julia vorlesen wollte, verschwammen ihr ständig die Wörter vor den Augen.
»Dschulie traurig?«, fragte Alice immer wieder, das kleine Gesicht sorgenvoll verzogen.
»Nein, nein, alles in Ordnung«, sagte Julia, klappte das Buch zu und gab Alice einen Gutenachtkuss. »Ich hab dich
Weitere Kostenlose Bücher