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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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    Ellie wachte in der Morgendämmerung auf und fachte ein neues Feuer an. Schweigend aßen sie ihr Frühstück und brachen im Anschluss das Lager ab. Mit dem ersten Tageslicht waren sie wieder unterwegs, kämpften sich durch immer dichteres Unterholz und Spinnweben, die so robust waren wie Angelschnüre. Es war schon kurz nach Mittag, als Alice plötzlich abrupt stehen blieb.
    In der schattigen Welt der hoch aufragenden, jahrhundertealten Bäume und des allgegenwärtigen Nebels sah das Mädchen auf einmal unbeschreiblich klein und verängstigt aus. Sie blickte Julia an, deutete flussaufwärts und sagte: »Nich gehn Alice.«
    Julia nahm sie auf den Arm und hielt sie fest. »Du bist so ein tapferes kleines Mädchen.« Zu Ellie gewandt, fügte sie hinzu: »Bitte mach reichlich Notizen und Fotos. Ich muss alles wissen. Aber sei vorsichtig.«
    Dann trug sie Alice zum Fuß einer gigantischen Zeder, und sie setzten sich auf den weichen Moosteppich. Der Wolf kam zu ihnen und legte sich neben sie.
    Ellie spähte in die grünen und schwarzen Schatten vor ihnen. Cal, Earl, George Azelle und sein Anwalt traten einer nach dem anderen zu ihr. Keiner sagte ein Wort. Sie musste all ihren Mut aufbringen, um weiterzugehen und die anderen tiefer in den Wald zu führen, doch sie tat es.
    So folgten sie dem Flusslauf um eine Kurve und über einen Hügel, bis sie auf eine gerodete Lichtung kamen, begrenzt von Baumstümpfen und abgeholzten Stämmen. Verstreut auf dem harten Boden lagen leere Blechdosen, von Moos und Schimmel überzogen, Hunderte von ihnen - jahrelang angesammelter Müll. Mittendrin türmte sich ein riesiger Haufen alter Zeitschriften und Bücher. Nicht weit davon, in einem Wäldchen aus Roten Zedern, stand ein windschiefer, behelfsmäßiger Schuppen ohne Tür.
    Links gähnte ein dunkler Höhleneingang, fast zugewuchert von Farnen, die in allen möglichen und unmöglichen Winkeln sprossen, die fein gezahnten Wedel leise im Wind wippend. Davor steckte ein glänzender Metallpflock im Boden. Um den Pflock war eine Nylonschnur geschlungen, am einen Ende durch einen Eisenhaken mit dem Pfosten verbunden.
    Ellie kniete nieder. Am anderen Ende der Nylonschnur hing ein Lederband, das abgenagt worden war, so kurz, dass es gerade um den Knöchel eines Kindes passte. Schwarze Flecken verfärbten das Leder. Blut. In der Dunkelheit ihrer Gedanken sah sie die kleine Alice, die hier angebunden war. Die nackten Füße des Mädchens hatten um den Pflock eine kreisrunde Vertiefung in der Erde hinterlassen. Wie lange war sie hier gewesen, wie oft war sie an ihrer Leine hier im Kreis getrottet?
    Cal beugte sich zu Ellie hinunter und legte ihr die Hand auf den Arm. Sie wartete, dass er etwas sagte, aber er drückte nur ermutigend ihre Schulter.
    Langsam richtete Ellie sich auf. »Bitte alle Handschuhe überziehen!« Dann beging sie den Fehler, George Azelle anzuschauen.
    »O Gott«, stammelte dieser, und seine Lippen bebten. »Jemand hat sie angebunden wie einen verdammten Hund?
    Wie ...«
    »Nicht ...« Ellie spürte, wie ihr die Tränen über die Wangen liefen, unprofessionell, aber unaufhaltsam. »Gehen wir«, sagte sie zu Cal.
    Das Schweigen lastete so schwer auf ihnen, dass jede Bewegung eine fast übermenschliche Anstrengung erforderte, vom Luftholen ganz zu schweigen. So führte Ellie ihre erste richtige Tatortuntersuchung durch. Sie fanden einen Stapel mit Frauenkleidern, einen einzelnen hochhackigen roten Schuh, ein blutbespritztes Messer, eine Schachtel mit halbfertigen Traumfängern und eine schäbige kleine Babydecke, die so schmutzig war, dass sich ihre ursprüngliche Farbe nicht mehr erkennen ließ. Am Saum hingen, völlig ausgefranst, aufgenähte Gänseblümchen.
    Als Azelle die Decke sah, kam nur ein erstickter, verzweifelter Laut über seine Lippen. »O mein Gott ...«
    Ellie vermied es, ihn anzusehen. Sie konnte sich ohnehin nur mit Müh und Not aufrecht halten, und wenn Azelles Gesicht auch nur ansatzweise zum Klang seiner Stimme passte, würde sie endgültig die Fassung verlieren. »Bitte schreiben Sie jedes Detail auf, Earl«, war alles, was sie hervorbrachte.
    Hinter dem Schuppen war ein weiterer Metallpflock in die Erde getrieben worden, ebenfalls mit einer blutbefleckten Lederfessel ausgestattet, die jedoch länger war als die vorige. Hier war jemand anderes angebunden gewesen. Eine Erwachsene.
    Zoe.
    »Sie konnte ihre Tochter nicht mal sehen«, flüsterte Ellie. Zoes Leine war länger und reichte bis zu der Matratze in

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