Wohin das Herz uns trägt
Fotograf mitzukommen. Alles musste haargenau nach Vorschrift ablaufen. Wenn sie tatsächlich etwas fanden, musste sie außerdem dafür sorgen, dass der Tatort für die Ermittler aus dem County - und womöglich sogar aus dem ganzen Land - unverändert blieb.
Hier draußen war es dunkel und still. Kalt. Der eisige Atem des Spätjanuars brannte auf Wangen und Lippen. Seit fast einer halben Stunde standen sie jetzt schon unter dem Ahornbaum. Julia kniete vor Alice und sprach leise mit ihr. In der Finsternis sahen sie alle aus wie Gespenster, vor allem Alice mit ihren schwarzen Haaren, dem schwarzen Mantel und den roten Stiefeln.
»Angss.« Sie stieß ein halbherziges Knurren aus.
»Ich weiß, Schätzchen. Ich hab auch Angst. Und Tante Ellie genauso. Aber wir müssen uns ansehen, wo du gewesen bist. Erinnerst du dich noch, dass wir darüber gesprochen haben? Über dein Versteck im Wald?«
»Dunkel«, flüsterte Alice.
Als Ellie Alices Wimmern und ihre zittrige Stimme hörte, hätte sie am liebsten die ganze Aktion auf der Stelle abgeblasen. Wie sollten sie das bloß durchziehen?
»Alice nich allein?«
»Nein«, versprach Julia. »Ich werde die ganze Zeit deine Hand festhalten.«
Alice seufzte, ein schrecklicher, herzzerreißender Laut. »Okay.« Hinter ihnen hielt ein Auto - das letzte Mitglied der Gruppe.
Ellie ging hinüber zum Gehweg, wo Peanut und Floyd jetzt neben einem Laster von der Tierfarm standen. Floyd hielt den Wolf an der Leine; das Tier trug einen Maulkorb. »Sind Sie sicher?«, fragte Floyd.
»Ja, ich bin sicher«, antwortete Ellie und nahm ihm die Leine ab.
»Wolf!«, rief Alice und rannte zu ihm. Der Wolf sprang an ihr hoch, so stürmisch, dass sie glatt umfiel.
»Werden Sie ihn zurückbringen?«, fragte Floyd, während er zuschaute, wie die beiden auf dem eisigen Gras herumtollten.
»Ich glaube eher nicht. Er gehört hinaus in die Wildnis.« Floyds Blick wanderte zu Alice. »Ich frage mich, ob er da der Einzige ist.« Damit ging er zurück zu seinem Laster und fuhr davon.
Ellie schaute auf ihre Uhr und gesellte sich wieder zu ihrer Schwester, die jetzt allein dastand und in den Wald starrte. »Es ist Zeit.«
Einen Moment schloss Julia die Augen und atmete tief ein und langsam wieder aus; dann holte sie Alice und kniete sich vor ihr auf den Boden. »Wir müssen jetzt los, Alice.«
Alice zeigte auf den Maulkorb und die Leine. »Böse. Falle. Riecht.«
Ellie warf ihrer Schwester einen besorgten Blick zu. Am Vorabend hatten sie beschlossen, den Wolf mitzunehmen, damit er Alice half, den Weg zurück in ihr altes Leben zu finden. In der Theorie hatte es sich wesentlich weniger gefährlich angefühlt.
»Sie braucht ihn«, sagte Julia.
»Okay, aber ich muss den Maulkorb dranlassen.«
Ellie bückte sich und machte den Wolf von der Leine los. Sofort drängte er sich mit der Schnauze an Alice.
»Höhle, Wolf«, flüsterte das Mädchen, und schon waren die beiden unterwegs in Richtung Wald.
»Das kann doch wohl kein Wolf sein«, sagte George Azelle ungehalten und trat zu Ellie.
»Gehen wir«, erwiderte Ellie nur, seine Bemerkung ignorierend.
Als die Sonne über die Baumwipfel stieg, waren sie so weit von der Stadt entfernt, dass sie nur noch ihre Schritte hörten, die im Unterholz knackten und raschelten, sowie das Murmeln und Rauschen des Flusses, an dessen Uferböschung sie entlangwanderten.
Seit über einer Stunde hatte niemand ein Wort gesprochen. Mit Julia, Alice und dem Wolf an der Spitze drangen sie immer tiefer in den Wald vor.
Hier wuchsen die Bäume höher und dichter, sodass sie das meiste Licht abhielten. Nur ab und zu fiel ein Sonnenstrahl auf den Waldboden und wirkte dabei so massiv, durchsetzt von so vielen Schwebeteilchen, dass man oft nicht sicher war, ob er einem nicht vielleicht den Weg versperrte.
Und immer weiter wanderten sie, ins Zentrum des alten Waldes, wo der Boden nachgiebig und stets feucht war, wo Bärlapp von den kahlen Ästen hing, als hätten sie lange, gespenstische Ärmel. Blasser Dunst waberte über dem Boden und hüllte ihre Füße ein, dass sie manchmal fast nicht mehr zu sehen waren.
Gegen Mittag machten sie auf einer kleinen Lichtung Rast, um etwas zu essen.
Ellie wusste nicht, ob die anderen auch so empfanden, sie jedenfalls fühlte sich extrem unbehaglich. Die Gruppe erschien ihr so klein; viel zu leicht konnte es passieren, dass sie sich verirrten und einfach verschwanden. Das einzige Geräusch war jetzt das Lüftchen, das durch die Millionen von
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