Wohin das Herz uns trägt
auf sie war absolut kein Verlass.
Mit einem tiefen Seufzer drückte sie Nummer zwei.
Ihr Therapeut, Dr. Harold Collins, nahm beim zweiten Klingeln ab. Seit ihrer Zusatzausbildung, als das für alle Psychologiestudenten Pflicht gewesen war, suchte sie ihn einmal im Monat auf. Eigentlich war er für sie eher ein Freund als ein Psychologe.
»Hallo Harry«, sagte sie und lehnte sich müde an die Wand. »Haben Sie die Zeitungen heute Morgen gesehen?«
Er seufzte. »Ja, Julia. Ich habe mir schon Sorgen um Sie gemacht.«
»Ich mache mir auch Sorgen um mich.«
»Sie sollten endlich anfangen, Interviews zu geben und Ihre Seite der Geschichte publik zu machen. Es ist doch lachhaft, sich die ganze Schuld aufhalsen zu lassen. Wir finden alle ...«
»Was soll das bringen? Es glauben doch sowieso alle, was sie wollen. Und das wissen Sie so gut wie ich.«
»Aber manchmal geht es einfach nur darum, zu kämpfen, Julia.«
»Das konnte ich noch nie sonderlich gut, Harry.« Sie starrte aus dem Fenster in den inzwischen sonnigen blauen Tag hinaus. Während sie sich noch eine Weile mit Harry unterhielt, ihm aber nur mit halbem Ohr zuhörte, fragte sie sich wieder und wieder, was sie bloß tun sollte. Patienten zu behandeln war alles, was sie konnte, es war ihr Leben. Vielleicht hätte sie ab und zu mal an etwas anderes denken sollen als an ihren Beruf. Dann wäre sie jetzt nicht so allein. Über diese Leere zu reden würde auch nichts helfen. Der Anruf war wohl doch keine so gute Idee gewesen. »Ich muss Schluss machen, Harry. Und danke für alles.«
»Julia ...«
Sie legte auf und tigerte eine Weile durch die Praxisräume. Als sie spürte, dass ihr die Tränen kamen, zog sie rasch den Anzug aus, streifte ihre Sportsachen über und ging zu dem Laufband, das im Nebenzimmer stand.
Sie wusste, dass sie in letzter Zeit das Training übertrieben und viel zu viel abgenommen hatte, aber irgendwie konnte sie nicht damit aufhören.
Im gedämpften Licht ihrer geliebten Praxis stellte sie sich auf das schwarze Band und programmierte die Maschine auf starke Steigung. Wenn sie rannte, konnte sie den Schmerz fast vergessen. Erst viel später, als sie das Gerät längst abgeschaltet hatte und in ihr stilles Haus zurückgefahren war, dachte sie darüber nach, was es bedeutete zu rennen, ohne zu wissen wohin.
* * *
Zu dieser späten Stunde waren die Korridore im Krankenhaus wie ausgestorben. Für Max war es die Zeit, die er am wenigsten mochte; ihm war die hektische Betriebsamkeit der Tagesschicht mit ihren Notfällen weitaus lieber. In der dunklen Stille warteten zu viele Gedanken auf ihn.
Er machte noch ein paar Notizen auf das Krankenblatt des Mädchens und blickte dann nachdenklich auf sie hinab.
Sie lag vollkommen reglos da und atmete tief und gleichmäßig, wie es nach einem Beruhigungsmittel meistens der Fall ist. Die Lederfessel um ihr schmales linkes Handgelenk wirkte plump und ausgesprochen hässlich.
Er nahm ihre andere Hand und hielt sie fest. Die Finger, die jetzt zwar sauber, aber übersät von blutigen Kratzern und Narben waren, sahen auf seiner Handfläche dünn und geradezu winzig aus. »Wer bist du, Kleines?«
Hinter ihm öffnete sich die Tür und fiel gleich wieder ins Schloss. Ohne sich umzudrehen, wusste er, dass es Trudi Hightower war, die Nachtschwester. Er konnte ihr Parfüm riechen - Gardenien.
»Wie geht es ihr?«, fragte Trudi und stellte sich dicht neben ihn. Sie war eine große, attraktive Frau mit freundlichen Augen und einer lauten Stimme. Sie behauptete immer gern, Letzteres käme daher, dass sie drei Jungen alleine großgezogen hatte.
»Nicht gut.«
Trudi schnalzte besorgt mit der Zunge. »Das arme Ding.«
»Können wir sie verlegen?«
»Der alte Kindertagesraum ist für sie vorbereitet.« Vorsichtig löste sie die Fixierung vom Bettgitter. Als sie das schwere Lederband anhob, berührte Max sie am Handgelenk.
»Lass das ruhig hier.«
»Aber ...«
»Ich denke, sie war in ihrem Leben oft genug angebunden.«
Damit beugte er sich über das Kind, nahm es in die Arme und hob es hoch.
Schweigend gingen sie durch die hell erleuchteten Korridore zum ehemaligen Kindertagesraum.
Dort legte Max die Kleine in das Bett, das Trudi ins Zimmer geschoben hatte. In letzter Sekunde konnte er sich zurückhalten, sonst hätte er ihr noch ein Schlaf gut, Kleines ins Ohr geflüstert.
»Ich bleibe noch eine Weile bei ihr«, erklärte er stattdessen.
Trudi legte die Hand auf seinen Arm. »Ich hab in einer
Weitere Kostenlose Bücher