Wohin das Herz uns trägt
ging zurück in ihr Haus. Mit einem müden Seufzer setzte sie sich an den Schreibtisch und nahm sich erneut die Berichte über die vermissten Kinder vor. Dort musste die Antwort doch zu finden sein.
Das war ihr letzter Gedanke, bevor sie eindöste.
Vom Quäken einer Autohupe wurde sie wieder wach, fuhr hoch und realisierte voller Schrecken, dass sie am Computer eingeschlafen war.
»Scheiße.«
Stolpernd kam sie auf die Füße und ging zur Haustür.
Auf dem Hof stand Peanut und winkte ihrem Ehemann, der gerade wegfuhr, zum Abschied zu.
Ellie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Fünf Minuten vor acht. »Was zum Teufel machst du denn hier?«, fragte sie mit einer Stimme, die klang, als würde sie mindestens ein Päckchen Zigaretten pro Tag qualmen.
»Ich hab mitgekriegt, dass du dich mit Max um acht im Krankenhaus verabredet hast. Dafür bist du ganz schön spät dran.«
»Wie kommst du auf die Idee, dass du auch eingeladen bist?«
»Oh, ich dachte, du hast vergessen, mir Bescheid zu sagen. Jetzt beweg deinen Hintern.«
Ellie fischte die Autoschlüssel aus der Tasche, warf sie Peanut zu und lief dann schnell noch mal ins Haus. Zum Duschen war keine Zeit mehr, und da sie immer noch in Uniform war, gab es eigentlich auch keinen Grund, sich umzuziehen. Also putzte sie nur die Zähne, wusch das Makeup vom Vortag ab und legte ein paar neue Schichten auf. In der Küche holte sie eine Packung Schweinekoteletts aus der Gefriertruhe - natürlich waren zwei drin, kein Wunder, dass sie so viel trainieren musste. Das Leben wurde im Doppelpack geliefert. Keine große Hilfe für eine Single-Frau. Sie legte die Packung auf einem Küchentuch in den Kühlschrank.
Punkt acht stieg sie in den Streifenwagen.
Peanut hatte inzwischen eine CD von Aerosmith eingelegt.
Ellie stellte die Musik sofort wieder ab. »Es ist zu früh für so was.«
»Warst du die ganze Nacht auf?«
»Wie kommst du denn auf die Idee?«
»Nun, du hast einen Tastaturabdruck auf der Backe.«
Unwillkürlich fasste Ellie sich an die Wange. »Mist, verdammter. Sieht man es?«
»Süße, das sieht sogar ein Blinder«, lachte Peanut, wurde aber gleich wieder ernst. »Hast du irgendwas Nützliches gefunden?«
»Ich war die ganze Nacht online und hab jedes Revier in fünf Counties kontaktiert. Nirgends wird ein Mädchen vermisst. Jedenfalls nicht in letzter Zeit. Wenn wir die Suche aufs ganze Land ausdehnen müssen, bedeutet das, wir haben die Akten sämtlicher in den letzten fünf Jahren als vermisst gemeldeter Mädchen vor uns.«
Bei diesem Gedanken verstummten sie beide. Ellie versuchte, sich ein unverfängliches Thema einfallen zu lassen. Als sie auf den Parkplatz vor dem Krankenhaus einbogen, sahen sie, dass sich eine Menschentraube vor dem Eingang zusammengefunden hatte.
»Grundgütiger. Was soll der Zirkus?« Ellie parkte auf einem Besucherplatz, schnappte sich ihr Notizbuch und stieg aus. Peanut folgte ihr ganz untypisch still.
Wie Gänse auf dem Flug nach Süden formierte sich die Menge und flog auf sie zu, angeführt von den Schwestern Grimm - Daisy, Marigold und Violet.
Im Gleichschritt näherten sich die drei alten Damen, die sich ähnelten wie ein Ei dem anderen.
Daisy, die Älteste, ergriff als Erste das Wort. Wie immer hielt sie eine alte schwarze Urne im Arm, welche die Asche ihres verstorbenen Ehemanns enthielt. »Wir wollten hören, ob es was Neues von dem Mädchen gibt.«
»Wer ist denn die arme Kleine?«, wollte Violet wissen und kniff hinter ihren verkratzten Brillengläsern die Augen zusammen.
»Kann sie wirklich fliegen wie ein Vogel?«, fragte Marigold.
»Und springen wie eine Katze?«, erkundigte sich eine Stimme von weiter hinten.
Ellie musste sich ins Gedächtnis rufen, dass diese Menschen ihre Wählerschaft waren. Mehr noch - sie waren auch ihre Freunde und Nachbarn. »Wir haben bislang keine Informationen, aber sobald uns welche vorliegen, lasse ich es Sie alle wissen. Im Augenblick könnte ich aber gut ein bisschen Hilfe brauchen.«
»Was immer Sie wollen!«, rief Marigold und zog ein Notizbuch mit geblümtem Einband aus ihrer violetten Vinyl-Handtasche.
Sofort bot Violet ihrer Schwester einen Stift in Tulpenform an.
»Das Kind braucht Anziehsachen und so. Vielleicht ein paar Kuscheltiere«, sagte Ellie. Kaum waren die Worte aus ihrem Mund, hatten die Schwestern Grimm auch schon die Kontrolle übernommen. Die drei ehemaligen Lehrerinnen trieben die Menge zusammen und begannen sogleich mit der
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