Wohin das Herz uns trägt
Dreiviertelstunde Feierabend, möchtest du dann zu mir rüberkommen?«
Er nickte. Er konnte weiß Gott ein bisschen Ablenkung gebrauchen. Wenn er heute Abend allein nach Hause ginge, würden die Erinnerungen schon da sein und nur darauf warten, ihm Gesellschaft zu leisten.
* * *
Ellie starrte auf den Computerbildschirm, bis ihr die Buchstaben vor den Augen verschwammen und nur noch als kleine pulsierende Punkte über die weiße Fläche tanzten. In ihrem Hinterkopf spannten die Kopfschmerzen einen Fallschirm auf und ließen sich ihre Wirbelsäule hinuntergleiten.
Wenn sie noch einen einzigen Bericht über ein vermisstes oder verschwundenes Kind lesen musste, würde sie anfangen zu schreien.
Es gab Tausende von ihnen.
Tausende!
Verlorene Mädchen ohne Stimme, mit der sie um Hilfe rufen konnten, ohne die Chance, andere Menschen zu erreichen. Die wenigen, die das Glück hatten, noch am Leben zu sein, konnten oft nur mit professioneller Hilfe gerettet werden.
Ellie schloss die Augen. Es musste doch möglich sein, mehr zu tun. Aber was? Sie hatte schon alles probiert, was ihr in den Sinn gekommen war. Zusammen mit ihren beiden Mitarbeitern hatte sie überall in der Stadt herumgefragt. Sie hatten das Büro des County-Sheriffs verständigt, dass ein nicht identifiziertes Kind gefunden worden war. Außerdem hatte sie Kontakt aufgenommen mit Family Crisis Network und Rural Resources und überhaupt mit sämtlichen regionalen und überregionalen Hilfsorganisationen dieser Art. Nirgends wusste man, wer dieses Kind war, und es kristallisierte sich immer deutlicher heraus, dass der Fall in Rain Valley und somit Ellies Fall bleiben würde. Natürlich konnte sie andere Polizeidienststellen und soziale Einrichtungen um Unterstützung bitten, aber da das Kind nun einmal hier aufgetaucht war, war es auch ihr Job, es zu identifizieren. Der County-Sheriff hatte sich so schnell aus der Affäre gezogen, dass man praktisch seine Bremsspuren sehen konnte. Sein Tut mir leid, das Mädchen befindet sich auf städtischem Gebiet sprach Bände. Niemand war bereit, sich für die Kleine verantwortlich zu fühlen, bevor eine eindeutige Identifizierung vorlag.
Ellie stand auf, streckte sich und massierte sich den Nacken.
Vorsichtig stieg sie über ihre beiden schlafenden Hunde, trat auf die Veranda und blickte auf den Garten hinaus. Inzwischen dämmerte schon der neue Tag herauf. Hier am Rand des Regenwalds war die Welt gleichzeitig vollkommen ruhig und springlebendig. Wie gewöhnlich war alles feucht; vom Meer wehte eine Brise, die Millionen Tautropfen auf den Blättern hinterließ. In der Morgendämmerung würden sie lautlos zu Boden fallen. Unsichtbarer Regen, so hatte ihr Dad das jedes Mal genannt, und Ellie spitzte oft die Ohren, und sei es auch nur, um sich an ihren Vater zu erinnern.
»Wenn du doch nur hier wärst, Dad«, sagte sie, während sie in die warm gefütterten Clogs schlüpfte, die an der Hintertür standen. »Du und Onkel Joe, ihr wusstet immer, wie man mit den großen Tieren zurechtkommt.«
Langsam überquerte sie die Veranda, ging die hintere Treppe hinab und stapfte durch den rosa-violetten Morgen zum Fluss hinunter. Nebelschwaden stiegen aus dem dunklen Gras empor und waberten um ihre Füße.
An der Grenze des Grundstücks, dem Lieblingsangelplatz ihres Vaters, angelangt, wurde ihr plötzlich klar, warum sie hergekommen war.
Sein Haus stand am anderen Ufer, hinter einer sumpfigen Wiese. Aus der Entfernung wirkte es kaum größer als ein Werkzeugschuppen, aber sie wusste, dass das nicht der Wahrheit entsprach.
Als Kind war sie jeden Tag über diese Wiese marschiert und hatte drüben beim Haus im Garten gespielt.
Um ein Haar wäre sie losgelaufen. Ihr ging der Gedanke durch den Kopf, wieder Steinchen an sein Fenster zu werfen und ihn zu rufen. Er würde sich ihre Ängste anhören und sie verstehen. Das hatte er immer getan.
Aber inzwischen war mehr als ein Jahrzehnt vergangen. Lisa wollte sicher nicht in aller Herrgottsfrühe von ans Fenster prasselnden Kieseln geweckt werden, und auch wenn Cal bestimmt aufstehen und sich draußen zu ihr setzen würde (immerhin war sie seine Chefin, nicht nur seine Freundin), würde er ihr trotzdem nicht richtig zuhören können. Er hatte jetzt sein eigenes Leben, seine eigene Familie, und obwohl jeder wusste, dass Lisa nicht gut genug für ihn war, liebte er seine Frau und seine Töchter.
Ellie wusste, dass sie allein damit fertig werden musste. Zögernd wandte sie sich um und
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