Wohin das Herz uns trägt
so viel steht fest«, meinte Ellie.
»Von wem zum Teufel redet ihr beiden eigentlich?«, hakte Max nach.
Endlich schenkte Ellie ihm ihre Aufmerksamkeit. »Von Julia Cates, meiner Schwester.«
»Ist das die Psychologin, die ...?«
»Genau die.« Ellie wandte sich wieder an Peanut. »Gehen wir zurück aufs Revier und rufen sie an.«
* * *
In den letzten zwölf Stunden hatte Julia mindestens ein Dutzend Projekte angefangen. Sie hatte versucht, ihren Schrank aufzuräumen, die Möbel umzustellen, den Kühlschrank auszuwischen und endlich mal das Badezimmer gründlich zu putzen. Außerdem war sie noch in der Gärtnerei gewesen, um Herbstpflanzen zu holen, und im Baumarkt, wo sie Farbentferner und Beize für die Veranda besorgt hatte. Jetzt war doch ein guter Zeitpunkt, um endlich all das zu erledigen, was sie seit zehn Jahren aufgeschoben hatte.
Das Problem waren ihre Hände.
Wenn sie mit etwas anfing, war alles in Ordnung, mehr als in Ordnung sogar. Sie war richtig optimistisch. Nur war dieser Optimismus leider nicht von Dauer. Sobald ein störender Gedanke auftauchte (beispielsweise: Jetzt wäre eigentlich Joes Termin oder - noch schlimmer - der von Amber), begannen ihre Hände sofort zu zittern, und sie spürte, wie ihr eiskalt wurde. Gestern Nacht, in der finstersten Stunde, als der Verkehr hinter dem Haus so leise geworden war wie eine einzige Mücke und von vorn nur noch das stetige Rauschen des Pazifik zu hören gewesen war, hatte sie sogar versucht, ein Buch zu schreiben.
Warum auch nicht?
Selbst irgendwelche Pseudoberühmtheiten versuchten sich doch heutzutage in diesem Metier. Und sie wollte ihre Seite der Geschichte ja auch erzählen, vielleicht war es tatsächlich notwendig. Also war sie aus ihrem ungemütlichen großen Bett gestiegen, hatte sich eine warme Fleece-Hose und lammfellgefütterte Stiefel angezogen und war auf ihren kleinen Balkon getreten. Von ihrer Wohnung im fünften Stock sah sie den mitternachtblauen Ozean, der sich endlos vor ihr erstreckte, stets in Bewegung. Das Mondlicht zerschnitt ihn in zwei Hälften und verfing sich in der schaumigen Brandung.
Stundenlang hatte sie dort gesessen, den Notizblock auf dem Schoß, den Stift gezückt. Um Mitternacht war sie umgeben von zerknüllten Papierbällchen. Und auf allen stand nur ein kurzer Satz: Es tut mir leid.
Gegen vier war sie in einen unruhigen, von Albträumen gequälten Schlaf verfallen.
Bis das Telefon sie weckte.
Sie hörte es wie aus weiter Ferne, blinzelte, setzte sich auf und begriff endlich, dass sie auf dem Balkon eingeschlafen war. Benommen rieb sie sich das Gesicht, stand auf und stieg über die verstreut herumliegenden Papierknöllchen.
Vor dem Telefon blieb sie stehen.
Der Anrufbeantworter sprang an, und sie hörte ihre eigene Stimme, die fröhlich verkündete: »Sie sind mit Dr. Julia Cates verbunden. Sollte es sich um einen medizinischen Notfall handeln, legen Sie auf und wählen Sie die Notrufnummer. Wenn nicht, hinterlassen Sie eine Nachricht, und ich rufe Sie so bald wie möglich zurück. Vielen Dank und auf Wiederhören.«
Es folgte ein langer Piepton.
Julia merkte, wie sie sich anspannte. In den letzten Monaten hatte sie hauptsächlich Anrufe von Reportern, von den Familien der Opfer und von Irren bekommen.
»Hey, Jules, ich bin‘s, deine große Schwester. Es ist wichtig!«
Rasch hob Julia ab. »Hallo, Ellie.«
Eine unbehagliche Pause trat ein. Aber war das nicht normal zwischen ihnen? Gut, sie waren Schwestern, es trennte sie jedoch mehr als nur der Altersunterschied von vier Jahren, sie hätten auch sonst nicht verschiedener sein können. An Ellie war irgendwie alles überlebensgroß - ihre Stimme, ihre Persönlichkeit, ihre Leidenschaften. Schon immer hatte Julia sich neben ihrer extrovertierten, überall beliebten Schwester schrecklich farblos gefühlt. »Alles klar bei dir?«, fragte Ellie schließlich.
»Ja, alles bestens, danke.«
»Man hat die Klage gegen dich fallen lassen. Das ist gut.«
»Ja.«
Wieder eine Pause, dann sagte Julia: »Danke, dass du anrufst, aber ...«
»Hör mal, ich wollte dich um einen Gefallen bitten.«
»Einen Gefallen?«
»Wir haben hier ..., na ja, wir befinden uns in einer Notlage. Du könntest uns echt helfen.«
»Du brauchst das nicht zu tun, Ellie. Ich komme schon zurecht.«
»Was soll ich nicht tun?«
»Versuchen, mich zu retten. Ich bin inzwischen erwachsen.«
»Ich hab nie versucht, dich zu retten.«
»Ja, klar. Wie damals, als du Todd Eldreds kleinen
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