Wohin das Herz uns trägt
Bruder dazu gebracht hast, mich zum Abschlussball einzuladen? Oder als du deine ganzen Freunde zur Party an meinem sechzehnten angeschleppt hast?«
»Ach das? Mom hat mir gesagt, ich soll das machen.«
»Meinst du, ich weiß das nicht? Keiner von deinen Freunden hat bei der Party auch nur ein Wort mit mir gewechselt. Versteh mich nicht falsch, ich war dir sehr dankbar. Damals wie heute. Doch es ist nicht nötig. Das wird schon wieder.«
»Ich dachte, du hast gerade gesagt, alles ist bestens.«
Julia war verblüfft, dass ihre Schwester den Widerspruch wahrgenommen hatte. »Du brauchst dir keine Sorgen um mich zu machen, Ellie. Echt nicht.«
»Für eine Therapeutin bist du eine ziemlich schlechte Zuhörerin. Ich brauche Hilfe, hier in Rain Valley. Genauer gesagt, ich benötige eine Kinderpsychologin.«
»Du bist aber wesentlich älter als die Klienten, die ich gewöhnlich annehme.«
»Sehr komisch. Kannst du kommen? Ich meine damit, jetzt sofort.« Wieder eine Pause, und Julia hörte am anderen Ende der Leitung Papier rascheln. »Bei Alaska Airlines gibt es einen Flug in zwei Stunden. In drei Stunden den nächsten. Ich kann dir ein Ticket reservieren.«
Julia runzelte die Stirn. Es hörte sich nicht nach dem gewohnten »Superschwester rettet Versagerschwester«Szenario an, das in ihrer Schulzeit an der Tagesordnung gewesen war. »Erklär mir doch erst mal, was eigentlich los ist.«
»Dafür haben wir keine Zeit. Ich möchte, dass du den Flug um zehn Uhr fünfzehn nimmst. Vertraust du mir?«
Julia blickte aus den riesigen Fenstern und versuchte sich auf den blauen Pazifik zu konzentrieren, aber alles, was sie klar sehen konnte, waren die zerknüllten Papierbälle auf dem Balkon.
»Jules? Bitte!«
»Warum nicht?«, sagte Julia schließlich.
Sie hatte ja nichts Besseres vor.
Kapitel 4
Julia war seit Jahren nicht mehr in Rain Valley gewesen, und jetzt kehrte sie ausgerechnet in der Stunde ihrer Niederlage zurück.
Vielleicht hätte sie doch in L.A. bleiben sollen. Dort wäre sie einfach untergetaucht. Hier war sie bis in alle Ewigkeit das andere Cates-Mädchen. (Ihr wisst schon ... die, die ein bisschen seltsam ist ...) Wenn man im Schatten einer allseits beliebten Schönheitskönigin aufwächst, hat man eigentlich nur zwei Möglichkeiten: Man kann verschwinden oder selbst etwas auf die Beine stellen. Wenn man aber als schlaksiger Bücherwurm in einer beliebten, geselligen Superfamilie groß wird, hat man keine Chance. Schon ganz früh war sie sich deplatziert vorgekommen, das Mädchen, das in jedem Spielplatzstreit vermittelte, aber selbst nie mitmachte. Für jeden Gruppensport wurde sie als Letzte ausgewählt, sie war die Stubenhockerin, die nicht zum Abschlussball, sondern lieber lesen wollte. Sie war die Ausnahmeerscheinung in der kleinen Arbeiterstadt, eine Einzelgängerin.
Nur ihre Mutter hatte stets eine große Zukunft für sie vorhergesehen und Julia dazu ermutigt, Ehrgeiz zu entwickeln. Leider hatte sie nicht mehr erlebt, wie Julia ihren Abschluss gemacht hatte, und dieser Verlust tat gelegentlich immer noch weh, wie ein Phantomschmerz. Je näher sie Rain Valley kam, desto höher war die Wahrscheinlichkeit, dass es schmerzte.
Sie starrte aus dem kleinen Flugzeugfenster. Draußen war alles grau, als hätte ein Wolkenkünstler einen hauchdünnen Schleier über die ganze grüne Landschaft gelegt. In all dem Grau fühlte sie sich plötzlich furchtbar einsam, als könnte sie im Nebel von Washington einfach verschwinden. Die vier großen Vulkane mit den schneebedeckten Gipfeln, die sich vom nördlichen Oregon bis nach Bellingham erstreckten, sahen aus wie das Rückgrat einer schlafenden Märchenbestie. Sie hörte, wie die Frau hinter ihr nach Luft schnappte und beeindruckt murmelte: »Sieh mal, Fred ..., ist das Mount Rainier?«
Plötzlich dachte sie an die Zunigas und an die verlorenen Kinder. Der große Irrtum. Die Schlagzeile überraschte sie nicht. Im letzten Jahr hatte alles, egal ob Gedanken oder Taten, immer tiefe Reue nach sich gezogen.
Denk nicht daran.
Sie schloss die Augen und konzentrierte sich auf ihren Atem, bis die aufgewühlten Gefühle sich etwas beruhigten. Als das Flugzeug landete, war sie wieder einigermaßen gefasst.
Sie holte ihre Tasche aus dem Gepäckfach über den Sitzen und reihte sich in die Schlange der Passagiere ein, die das Flugzeug verließen.
Als sie schon fast an der Tür war, passierte es.
Eine der Flugbegleiterinnen erkannte sie. Die Zeichen waren unverkennbar
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