Wohin das Herz uns trägt
mögen, er sitzt nicht hier am Tisch. Sie haben mich gerade erst kennengelernt, Julia.«
»Das stimmt. Warum erzählen Sie mir dann nicht einfach ein bisschen von sich? Sind Sie verheiratet?«
»Eine interessante Frage für den Anfang. Nein. Und Sie?«
»Nein.«
»Waren Sie schon mal verheiratet?«
»Nein.«
»Schon mal nah dran?«
Eine Sekunde lang senkte sie den Blick. Mehr brauchte er nicht zu wissen. Jemand hatte ihr das Herz gebrochen. Und er wäre jede Wette eingegangen, dass es noch nicht lange her war. »Ja. Und Sie? Waren Sie schon mal verheiratet?«
»Ja, einmal. Vor langer Zeit.«
Das schien sie zu überraschen. »Kinder?«
»Nein.«
Sie sah ihn scharf an, als hätte sie aus seiner Stimme irgendetwas herausgehört. Ihre Blicke trafen sich. Schließlich lächelte sie. »Dann können Sie vermutlich Kuchen essen, mit wem Sie wollen.«
»Stimmt genau.«
»Wahrscheinlich haben Sie schon mit jeder Frau aus der Stadt Kuchen gegessen.«
»Das ist zu viel der Ehre. Verheiratete Frauen backen ihren eigenen Kuchen.«
»Und was ist mit meiner Schwester?«
Sein Lächeln verblasste. Auf einmal schien das Flirten nicht mehr ganz so harmlos. »Was soll mit ihr sein?«
»Haben Sie ... mit ihr auch Kuchen gegessen?«
»Ein Gentleman würde eine solche Frage nicht beantworten, oder?«
»Sie sind also ein Gentleman?«
»Selbstverständlich.« Allmählich wurde ihm die Richtung des Gesprächs unbehaglich. »Wie geht es Ihrem Gesicht? Die Beule sieht schlimm aus.«
»Wir Psychologen kriegen manchmal eins aufs Dach. Berufsrisiko.«
»Man weiß nie genau, wozu ein Mensch fähig ist, stimmt‘s?«
Sie sah ihn an. »Das zu wissen ist mein Job. Obwohl inzwischen die ganze Welt erfahren hat, dass ich etwas Wichtiges übersehen habe.«
Dazu konnte er nichts sagen, keinen Trost anbieten, also schwieg er.
»Keine Binsenweisheiten auf Lager, Dr. Cerrasin? Keinen Vortrag zum Thema ›Gott lädt einem niemals mehr auf, als man tragen kann‹?«
»Sagen Sie Max zu mir. Bitte.« Er sah ihr in die Augen. »Und manchmal bricht einem Gott das Kreuz, ohne auch nur einmal mit der Wimper zu zucken.«
Einen langen Moment später fragte sie: »Und wie hat er es bei Ihnen gemacht, Max?«
Er stand auf und stellte sich neben sie. »So gern ich auch weiterplaudern würde, ich muss um sieben arbeiten, also ...«
Julia stellte das Geschirr auf das Tablett und stand ebenfalls auf.
Max trug alles in die Küche, räumte das Geschirr in die Spülmaschine, und dann gingen sie nebeneinander durch die stillen, leeren Korridore und hinaus auf den Parkplatz.
»Ich fahre mit dem roten Pick-up«, sagte Julia, während sie in ihrer Tasche nach den Schlüsseln wühlte.
Max machte die Tür für sie auf.
Sie sah zu ihm empor. »Danke.«
»Gern geschehen.«
Sie zögerte einen Moment und sagte dann: »Für mich übrigens lieber keinen Kuchen mehr. Nur damit Sie Bescheid wissen. Okay?«
»Aber ...«, begann er stirnrunzelnd.
»Noch mal danke«, fiel sie ihm ins Wort, stieg ins Auto, schlug die Tür zu und fuhr davon.
Kapitel 8
Julia weigerte sich, an Max zu denken. Sie hatte momentan genug andere Sorgen, sie brauchte sich nicht auch noch den Kopf wegen einem kleinstädtischen Schürzenjäger zu zerbrechen. Zugegeben, er war attraktiv - na und? Max war eindeutig ein Spieler, und sie war weder an Spielchen interessiert noch an den Männern, die sie spielten. Diese Lektion hatte sie von Philip gelernt.
Sie bog auf den Olympic Drive ein. Hier war der älteste Teil der Stadt, erbaut in den 1930er Jahren für die Familien der Arbeiter im Sägewerk.
Es war wie eine Zeitreise. An der Kreuzung blieb sie stehen, und da war es, im Licht ihrer Scheinwerfer.
Das Sägewerk. Zu dieser späten Stunde konnte sie nicht lesen, was auf dem orangefarbenen Banner im Fenster stand. Aber sie kannte die Worte ohnehin auswendig. Diese Gemeinde lebt vom Holz . Die gleichen Banner gab es seit den Rettungsaktionen für den Fleckenkauz überall in der Stadt.
Dieses Werk war das Herz des West Ends. In den Sommermonaten öffnete es schon um drei Uhr früh die Tore, und Männer wie ihr Vater warteten dann bereits ungeduldig darauf, dass ihr Arbeitstag endlich begann.
Sie nahm den Fuß vom Gaspedal und zuckelte langsam durch den Nebel. So oft hatte sie im Pick-up ihres Vaters vor diesem Gebäude auf ihn gewartet.
Ihr Vater war Holzschneider gewesen. Das war im Vergleich zu einem gewöhnlichen Holzarbeiter etwa so wie das Verhältnis Chirurg zu praktischem Arzt.
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