Wohin das Herz uns trägt
sonnenfarben. Sie will aufstehen, doch es geht nicht. Etwas hält sie fest. Panik ergreift sie, sie schlägt um sich und will sich befreien.
Aber sie ist gar nicht festgebunden.
Langsam kriecht sie aus dem weichen Platz, kauert sich auf den Boden, schnuppert die Gerüche dieses fremden Orts. Holz. Blumen. Noch mehr natürlich, aber das kennt sie alles nicht.
Irgendwo tropft Wasser, es klingt wie der letzte Regen, der von einem Blatt auf den harten Sommerboden fällt. Außerdem ist da ein lautes Klopfen, ein Schlagen. Der Eingang zur Höhle ist wie bei der vorigen ein dickes braunes Ding. Sein Zauber geht von der glänzenden Kugel in der Mitte aus; sie hat Angst, diese Kugel zu berühren. Dann wissen die Fremden, dass ihre Augen offen sind. Und kommen wieder mit ihren Netzen und ihren spitzen Nadeln. Nur in der dunklen Zeit, wenn die Sonne schläft, ist sie vor ihnen sicher.
Ein Windhauch streicht ihr über Gesicht und Haar. Er bringt den Geruch von dort, wo sie herkommt. Sie sieht sich um.
Das ist er. Der Kasten, der den Wind festhält. Aber er ist anders, anders als das trügerische Ding, das dafür gesorgt hat, dass das Draußen draußen bleibt, und durch das man nichts berühren konnte.
Sie bewegt sich vorwärts, hält ihren Bauch ganz fest umklammert.
Süße Luft kommt durch den Kasten. Vorsichtig streckt sie die Hand durch die Öffnung. Langsam, Stückchen für Stückchen rückt sie weiter vor, jederzeit bereit, sich beim ersten Anzeichen von Schmerz zurückzuziehen.
Aber nichts widersetzt sich ihr. Schließlich ist ihr ganzer Arm Dadraußen, in ihrer Welt, in der die Luft aus Regentropfen zu bestehen scheint.
Sie schließt die Augen. Zum ersten Mal, seit man sie in die Falle gelockt hat, kann sie wieder richtig atmen. Sie stößt ein langes, verzweifeltes Heulen aus.
Kommt und holt mich , bedeutet das Heulen, aber sie bricht mittendrin ab. Sie ist so weit weg von ihrer Höhle. Niemand kann sie hören.
Deshalb hat Er ihr ja immer gesagt, sie soll bleiben . Er kannte die Welt jenseits ihrer Kette.
Dadraußen ist voll von Fremden, die Mädchen wehtun wollen.
Und jetzt ist sie allein.
* * *
Vor vielen Jahren war Ellie mit ihrem damaligen Freund Scott Lauck ins Autokino gegangen, in einen Film mit dem Titel Der Schwarm . Vielleicht hatte er auch anders geheißen, aber es war irgendwas in der Art gewesen. Sie konnte sich nur noch an eine Szene erinnern, in der Joan Collins von einem Schwarm Ameisen in Volkswagengröße überfallen wurde. Natürlich hatte sich Ellie nicht so sehr für den Film interessiert als vielmehr dafür, mit Scotty rumzumachen. Trotzdem kamen ihr nun diese uralten Filmbilder in den Kopf, als sie auf dem Korridor vor dem Pausenraum stand, ihren Kaffee schlürfte und auf das Gedränge in der Polizeistation blickte.
Ein unglaublicher Volksauflauf. Von ihrem Platz am Ende des Korridors konnte sie kein Stückchen Boden oder Wand erkennen. Und draußen war es das Gleiche, den ganzen Häuserblock entlang.
Die Geschichte war heute früh mit einer Unzahl von Schlagzeilen unters Volk gebracht worden.
DAS MÄDCHEN VON NIRGENDWO
WER BIN ICH?
ERINNERT IHR EUCH NOCH AN MICH?
Ellies Lieblingsüberschrift stammte mal wieder von Mort:
STUMMES FLUGMÄDCHEN LANDET IN RAIN VALLEY hatte er in der Gazette getitelt. Im ersten Abschnitt wurden die unglaubliche Sprungkraft des Mädchens und natürlich auch ihr Wolfskamerad beschrieben. Morts Bericht war der einzige, der das Mädchen zutreffend schilderte: verrückt, wild und herzzerreißend.
Um acht Uhr morgens war der erste Anruf eingegangen, und seither hatte Cal keinen ruhigen Moment mehr gehabt. Um eins hatte der erste Übertragungswagen eines nationalen Nachrichtensenders die Stadtgrenze überquert. Innerhalb von zwei Stunden waren die Straßen von Kleinbussen und Reportern verstopft, die eine weitere Pressekonferenz forderten. Alle - Journalisten, Eltern, Spinner und Hellseher - wollten die Details als Erste erfahren.
»Bisher hat sich noch nichts ergeben«, sagte Peanut, die gerade aus dem Pausenraum kam. »Niemand weiß, wer sie ist.«
Cal blickte von seinem Schreibtisch auf und sah seine beiden Kolleginnen an. Er sprach gleichzeitig in sein Headset und wehrte die Fragen des Reporterschwarms ab, der sich vor ihm aufgebaut hatte.
Ellie lächelte ihn an.
Hilfe, formte er lautlos mit den Lippen.
»Cal dreht gleich durch«, stellte Peanut trocken fest.
»Ich mach ihm keinen Vorwurf. Er hat diesen Job ja auch nicht angenommen, um
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