Wohin das Herz uns trägt
zurück. Die Stuhlbeine quietschten auf dem Linoleumboden.
Ehe Julia wusste, was passiert war, schrie das Mädchen laut auf, sprang auf die Beine, zerkratzte ihr Gesicht und schnaubte.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Julia ruhig. »Irgendwas hat dich anscheinend erschreckt. Du hast Angst. Kennst du das Wort? Du hast Angst, weiter nichts. Das war ein lautes, hässliches Geräusch, und es hat dir Angst gemacht. Aber dir geschieht nichts. Es ist nichts passiert, siehst du?« Langsam ging Julia auf das Mädchen zu, das in der Ecke stand und mit der Stirn gegen die Wand schlug.
Bumm. Bumm. Bumm.
Bei jedem Schlag zuckte Julia zusammen. »Du bist erschrocken, du hast Angst. Das ist okay. Der Lärm hat mich auch erschreckt.« Ganz behutsam streckte sie die Hand aus und berührte die magere Schulter des Mädchens. »Schschsch.«
Die Kleine verharrte regungslos. Julia spürte die Anspannung in Schultern und Rücken, die Verkrampfung. »Jetzt ist alles wieder in Ordnung. Okay. Du brauchst keine Angst zu haben. Keine Angst.« Sie berührte auch die andere Schulter des Mädchens und drehte die Kleine um.
Das Mädchen starrte mit seinen wachsamen blaugrünen Augen zu ihr empor. Auf seiner Stirn bildete sich bereits ein blauer Fleck, die Kratzer auf ihren Wangen bluteten. So nahe bei ihr war der Uringeruch geradezu unerträglich.
»Hab keine Angst«, sagte Julia noch einmal. Eigentlich ging sie fest davon aus, dass das Mädchen sich losreißen und weglaufen würde.
Aber das Kind blieb wie angewurzelt stehen, atmete flach und hastig, wie ein Reh im Scheinwerferlicht, und sein ganzer Körper zitterte. Wahrscheinlich versuchte es, die Situation und ihre Optionen abzuschätzen.
»Du versuchst mich zu durchschauen«, sagte Julia überrascht. »Genau wie ich dich zu durchschauen versuche. Ich bin Julia.« Sie zeigte auf sich. »Julia.«
Aber die Kleine wandte desinteressiert den Blick ab. Das Zittern wurde schwächer, der Atem ruhiger.
»Du brauchst keine Angst zu haben«, versprach Julia noch einmal. »Essen. Hunger?«
Das Mädchen schaute auf den Tisch, und Julia dachte: Volltreffer! Du hast verstanden, was ich gesagt habe. Oder jedenfalls, was ich meinte.
»Essen«, wiederholte sie, ließ das Mädchen los und trat beiseite.
Vorsichtig schlängelte sich die Kleine an ihr vorbei, ohne die Augen von Julias Gesicht zu nehmen. In sicherer Entfernung stürzte sie sich auf das Essen. Und spülte alles mit dem, Apfelsaft hinunter.
Danach brauchte Julia nur noch zu warten.
* * *
Ihr frühmorgendlicher Ausflug von der Stadt an den Rand des Waldes hatte die leicht verschwommene Atmosphäre eines Traums.
Auf dem Weg vom Krankenhaus zum alten Highway sagte keiner ein Wort. Für Max hatte die heimliche Aktion etwas an sich, was den Luxus von Gesprächen nicht gestattete. Er vermutete, dass es seinen Mitverschwörern genauso erging, denn obwohl sie sich immer wieder vor Augen führten, dass dieser Schritt zum Besten des Mädchens war, hing dennoch eine nagende Sorge in der Luft, ein unerledigtes Problem. In der Klinik war die Kleine in Sicherheit gewesen, denn die Tür ließ sich fest verriegeln, und die Fenster waren aus Panzerglas. Hier, im hintersten Winkel des Tals, bevor die Baumriesen endgültig die Herrschaft übernahmen, war der Wald viel zu nah, und alle wussten, was für eine Verlockung er für das Mädchen darstellen würde.
Max saß auf dem Rücksitz des Streifenwagens, Julia rechts von ihm. Zwischen ihnen lag das Mädchen, den Kopf auf Julias Schoß gebettet, die nackten Füße auf seinem. Ellie fuhr, Peanut saß schweigend neben ihr. Außer ihrem Atem und dem Knirschen der Reifen auf dem Kies hörte man nur das Radio. Aber das war so leise gedreht, dass Max nur ab und zu ein paar Töne mitbekam und einen Song erkannte. Momentan war es »Superman« von den Crash Test Dummies.
Nachdenklich betrachtete er das Mädchen auf ihrem Schoß. Sie war so unglaublich dünn und zerbrechlich. Die frischen Kratzer bluteten noch, und selbst im Halbdunkel erkannte man die leicht glänzende Haut über den Narben älterer Verletzungen - Hinweise auf Verletzungen von eigener oder fremder Hand. Die Beule auf ihrer Stirn war inzwischen verfärbt. Am schlimmsten aber war die Narbe auf ihrem linken Fußknöchel. Wenn Max sie ansah, krampfte sich jedes Mal sein Magen zusammen. Fesselspuren.
»Wir sind da«, sagte Ellie und parkte unter einem alten, klapprigen Anbau. Moos hatte das Dach mit einem grünen Pelz überzogen.
Max nahm das
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