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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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ein Schnurren, und blickte zu Julia auf. Dann klatschte sie mit den Händen aufs Wasser, strampelte mit den Beinen, planschte und machte sich daran, die Wanne zu erforschen. Sie leckte die Kacheln ab, berührte die Fugen und schnüffelte am Hahn. Dann schöpfte sie Wasser in die Hand und trank es (natürlich musste man ihr das abgewöhnen, aber später).
    Schließlich griff Julia nach der Lavendelseife im Seifenhalter und reichte sie dem Mädchen. Die Kleine roch daran, steckte sie in den Mund und versuchte sie zu essen.
    Julia musste lachen. »Nein, nein! Das ist bäh, eklig.« Sie verzog das Gesicht. »Bäh.«
    Das Kind runzelte die Stirn und versuchte, das glitschige Ding zu packen.
    Aber Julia behielt die Seife und rieb sie zwischen den Fingern, um Schaum zu erzeugen. »Okay, jetzt wasche ich dich. Sauber. Seife.« Ganz langsam nahm sie die Hand des Mädchens in ihre und begann damit, sie einzuseifen.
    Das Mädchen beobachtete sie mit der Konzentration eines Zauberlehrlings, der einen neuen Trick lernt. Schon während Julia ihr die Hände rubbelte, fing sie an, sich etwas zu entspannen, dann ließ sie sich problemlos in der Wanne umdrehen und die Haare waschen. Als Julia ihr die Kopfhaut massierte, begann sie sogar leise und wohlig vor sich hin zu summen.
    Es dauerte einen Moment, bis Julia merkte, dass die Töne eine Melodie bildeten.
    Weißt du, wie viel Sternlein stehen.
    Julia richtete sich auf. Von all den unerwarteten Ereignissen heute war das eindeutig das wichtigste. »Wer hat dir das vorgesungen, Kleines? Wer?«
    Mit geschlossenen Augen summte das Mädchen weiter.
    Julia spülte die langen Haare aus, die so dicht und lockig waren, dass sich einzelne Strähnen wie Ranken um ihre Finger legten. Jetzt sah sie die Narben auf dem schmalen Rücken deutlich vor sich, ein ganzes Netz. Eine davon - dicht unter der Schulter - war besonders hässlich.
    Wo bist du nur gewesen?
    Das Kinderlied war wie ein winziges Fenster auf die wahre Herkunft des Mädchens - ein erster kleiner Hinweis. Doch wenn Julia jetzt nachfragte, würde sie aller Wahrscheinlichkeit nach keine Antwort bekommen. Sie wusste, dass sie auf viel grundlegendere, direktere Methoden zurückgreifen musste.
    Fürs Erste beschloss sie, einfach mitzusingen. »›Weißt du, wie viel Wolken gehen, weithin über alle Welt?‹«
    Das Mädchen wälzte sich im Wasser herum, bis es Julia direkt ansehen konnte. Seine blaugrünen Augen schienen viel zu groß für das kleine, spitze Gesicht.
    Julia sang das Lied zu Ende, legte sich dann die Hand auf die Brust und sagte: »Julia. Ju-li-a. Das bin ich.« Dann nahm sie vorsichtig die Hand des Mädchens. »Und wer bist du?«
    Als Antwort bekam sie lediglich ein intensives Starren.
    Seufzend griff Julia nach einem Handtuch. »Na, dann komm.«
    Zu ihrer Verwunderung stand das Mädchen sofort auf und stieg aus der Wanne.
    »Hast du mich etwa verstanden? Oder hast du mich nur nachgemacht?« Julia hörte selbst das Staunen in ihrer Stimme. Das war alles andere als professionelle Neutralität! Aber dieses kleine Mädchen überraschte sie in einem fort. »Weißt du, wie man spricht? Wörter? Reden?« Sie berührte wieder ihre Brust. »Julia. Ju-li-a.« Dann legte sie die Hand auf die Brust des Mädchens. »Wer bist du? Wie lautet dein Name? Ich muss dich doch irgendwie nennen.«
    Nur weiter ein Starren.
    Julia trocknete die Kleine ab und zog sie an. »Ich mach dir lieber wieder die Windel um. Nur zur Sicherheit. Dreh dich um, bitte, ich will dir die Haare flechten. Das hat meine Mom bei mir auch immer gemacht. Aber ich bin vorsichtiger als sie, das verspreche ich. Bei Mom hat es so geziept, dass ich manchmal weinen musste. Meine Schwester hat immer gesagt, deshalb sind meine Augen schräg geworden. Hier. Schon fertig.« In der Bewegung stieß sie aus Versehen gegen die Badezimmertür, die sich schloss, sodass im Spiegel auf ihrer Rückseite in einem perfekten rechteckigen Rahmen die Reflexion des Mädchens erschien.
    Die Kleine schnappte so heftig nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Dann streckte sie die Hand nach dem Spiegel aus und versuchte, das kleine Mädchen darin anzufassen.
    »Hast du dich am Ende selbst noch nie gesehen?«, fragte Julia, aber schon als sie die Frage stellte, kannte sie die Antwort.
    Nichts passte zusammen. Der Wolf. Die Essgewohnheiten. Das Lied. Das Töpfchentraining. Das waren winzige Teilchen, die den Rand des Puzzles bildeten, doch das zentrale Bild, der Zusammenhang - nichts davon war

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