Wohin das Herz uns trägt
ab Alice. Also, Alice, du musst jetzt ins Bett. Wenn du unter der Decke liegst, dann lese ich dir die Geschichte weiter vor.«
Genau eine Stunde später war das Kind eingeschlafen und Julia klappte das Buch zu.
Dann drückte sie der Kleinen einen Kuss auf die duftende rosa Wange. »Gute Nacht, kleine Alice. Schlaf gut im Wunderland!«
Kapitel 11
Ellie saß allein auf dem Polizeirevier und ging ihre Notizen vom Nachmittag durch.
Alle diese trauernden Eltern und ihre vermissten Kinder zählten jetzt auf sie.
Sie hatte fürchterliche Angst, sie zu enttäuschen. Diese Angst trieb sie an und sorgte dafür, dass ihr Hintern auf dem Stuhl blieb und ihre müden Augen sich weiter auf den Stapel Berichte vor ihr konzentrierten.
Aber sie saß schon zu lange hier. Sie war nicht mehr objektiv, sie konnte nichts mehr über Blutgruppen und Zahnarztunterlagen und Entführungsdaten zu Papier bringen. Wenn sie die Augen zumachte, sah sie nur noch zerbrochene Familien, Menschen, die immer noch Jahr für Jahr den Weihnachtsstrumpf für ihre Kinder an den Kamin hängten.
»Ich hab dich draußen weinen hören.«
Ellie fuhr hoch und schniefte heftig. »Ich hab nicht geweint. Mir ist bloß irgendwas ins Auge gekommen. Was hast du hier überhaupt verloren?«
Cal stand vor ihr und lächelte, die Hände tief in den Taschen. In seinem schwarzen Dark-Knight-T-Shirt und verwaschenen Jeans sah er viel eher aus wie ein Teenager als wie ein verheirateter Vater von drei Kindern.
Er zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Ellie. »Alles klar?«
Sie wischte sich die Augen. Das Lächeln, das sie auf ihr Gesieht zauberte, war pure Fiktion, und das wussten sie beide. »Ich bin dem allem nicht gewachsen, Cal.«
Er schüttelte den Kopf, und eine schwarze Haarsträhne fiel wie ein Komma über seine Augen.
Ohne nachzudenken, strich Ellie sie ihm aus der Stirn.
»Was soll ich jetzt bloß tun?«
Er zuckte vor ihrer Berührung zurück und lachte verlegen. »Das, was du immer tust, Ellie.«
»Und das wäre?«
»Du tust einfach das, was nötig ist. Du findest die Familie dieses Mädchens.«
»Kein Wunder, dass ich dich in der Nähe haben will.« Diesmal war das Lächeln schon fast echt.
Er stand auf. »Komm, ich spendier dir ein Bier.«
»Was ist mit Lisa und den Mädchen?«
»Tara passt auf die Mädchen auf.« Er griff nach seiner Regenjacke und schlüpfte hinein.
»Ich brauch kein Bier, Cal. Ehrlich. Außerdem sollte ich nach Hause gehen. Du brauchst nicht ...«
»Es wartet niemand mehr auf dich, Ellie.«
»Ich weiß, aber ...«
»Geh doch mit.«
Wie er das sagte, so völlig selbstverständlich, rührte ihr Herz. Er hatte recht. Es war lange her, dass sich jemand um sie gekümmert hatte. »Na gut, gehen wir.« Sie schnappte sich ihre schwarze Lederjacke und folgte ihm aus dem Revier.
Die Straßen waren wieder leer und still.
Am Nachthimmel leuchtete der Vollmond und erhellte die Straßen, die noch vom spätabendlichen Regen nass waren, ein unheimliches Glänzen, das Bäume und Straßen versilberte.
Beim Fahren versuchte Ellie nicht an den Fall zu denken, sondern konzentrierte sich auf die dunkle Straße und das tröstliche Licht der Scheinwerfer hinter ihr. Wenn sie ehrlich mit sich war, fühlte es sich gut an, jemanden zu haben, der ihr nach Hause folgte.
Sie bog auf den Hof ein und parkte. Ehe sie den Zündschlüssel herausziehen konnte, hörte sie den Song im Radio. »Leaving on a Jet Plane«.
Erinnerungen stiegen auf. Mom und Dad spielten das Lied auf Klavier und Fiddle und forderten ihre Mädchen auf, mitzusingen. Meine Ellie bat eine Stimme wie ein Engel , sagte ihr Dad immer.
Sie sah sich als kleines Mädchen auf die provisorische Bühne laufen, wo sie sich dicht an ihren Vater drängte. Später, als Sammy Barton den Song für sie spielte, hatte sie sich Hals über Kopf in ihn verliebt. In dieser Liebe wäre sie fast ertrunken. Nur mit knapper Not hatte sie überlebt.
»Den Song mochtest du doch immer so gern«, sagte Cal. Er stand neben Ellies Autotür und sah durchs offene Fenster auf sie herab.
»Ja, früher mal«, antwortete Ellie und schob die Erinnerungen beiseite. »Jetzt muss ich dabei hauptsächlich an Ehemann Numero zwei denken. Na ja, er ist nicht mit dem Flugzeug abgerauscht, sondern mit dem Greyhound-Bus. Man muss schon wirklich dringend von jemandem weg wollen, wenn man den Bus nimmt.« Sie stieg aus.
»Er war ein Idiot.«
»Vermutlich trifft das in deinen Augen auf alle Männer zu, die ich je geliebt
Weitere Kostenlose Bücher