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Wohin das Herz uns trägt

Wohin das Herz uns trägt

Titel: Wohin das Herz uns trägt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kristin Hannah
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Sein Talent bestand darin, ehrlich zu wirken, Tiefe vorzugaukeln. Doch aus irgendeinem Grund sah sie, als sie ihn anschaute, in seinen Augen etwas wie Einsamkeit und ein Verständnis, das ihr den Wunsch einflößte, ihm zu antworten.
    Aber damit würde sie ihm ja in die Falle gehen.
    »Können wir bitte zum eigentlichen Thema kommen?«
    »Nun gut. Gehen wir also zu den beruflichen Fragen über. Erzählen Sie mir von dem Mädchen.« Er ging zum Kamin, fachte ein Feuer an, kam dann zurück zur Couch und setzte sich.
    »Ich nenne sie vorläufig Alice«, begann Julia. »Wie Alice im Wunderland. Auf das Buch hat sie nämlich eindeutig reagiert.«
    »Scheint mir eine gute Wahl zu sein.«
    Er wartete.
    Plötzlich wünschte Julia, sie wäre nicht hergekommen.
    Vielleicht war er ein Frauenheld, aber außerdem war er auch ein Kollege, und als solcher konnte er sie mit einem einzigen Wort zugrunde richten.
    »Julia?«
    Sie riss sich zusammen und fuhr langsam fort. »Als Sie die Kleine zum ersten Mal untersucht haben, haben Sie da irgendeinen Hinweis auf ihre Nahrung gefunden?«
    »Sie meinen, abgesehen von der Dehydrierung und der Unterernährung?«
    »Ja.«
    »Faktisch nicht. Aber ich habe ein paar Ideen dazu. Ich würde sagen, Fleisch, Fisch und Obst. Ich schätze, dass sie keine Milchprodukte und auch keine Getreideprodukte zu sich genommen hat.«
    Julia sah ihn an. »Mit anderen Worten, der Speiseplan von jemandem, der sich lange Zeit mit allem über Wasser halten muss, was er in der freien Natur findet.«
    »Vielleicht. Was glauben Sie, wie lange das Mädchen da draußen in der Wildnis gelebt hat?«
    Da war es also heraus. Die Frage, deren Antwort sie entweder bestätigen oder vernichten würde.
    »Sie werden mich für verrückt halten«, sagte sie nach einer viel zu langen Pause.
    »Ich dachte, ihr Therapeuten benutzt dieses Wort nicht.«
    »Verraten Sie es niemandem.«
    »Bei mir sind Sie in Sicherheit.«
    »Wohl kaum«, lachte sie.
    »Kommen Sie zur Sache, Julia«, mahnte er und nippte an seinem Drink. Die Eiswürfel klackten.
    »Okay.« Sie begann mit den einfacheren Hypothesen. »Ich bin sicher, dass sie nicht taub ist, und auch die Autismus-Theorie scheint mir fragwürdig. Eigentlich kommt Alice mir vor wie ein ganz normales Kind, das auf eine fremde und feindselige Umwelt reagiert. Ich denke, dass sie Sprache teilweise versteht, aber ich bin mir noch nicht sicher, ob sie sprechen kann und es absichtlich nicht tut, oder ob sie es tatsächlich nie gelernt hat. Wie dem auch sei - sie ist noch nicht in der Pubertät und damit zumindest theoretisch auch nicht zu alt, um sprechen zu lernen.«
    »Und?« Er trank etwas von seinem Whiskey.
    Auch sie nippte an ihrem Wein - besser gesagt kippte sie hastig einen großen Schluck hinunter. In diesem Moment empfand sie ihre Verletzlichkeit so stark, dass sie spürte, wie ihr das Blut ins Gesicht stieg. Aber es blieb ihr nichts anderes übrig, als entweder ins kalte Wasser zu springen oder wegzulaufen. »Haben Sie jemals einen dieser Berichte über die Wilden Kinder gelesen?«
    »Sie meinen beispielsweise über den französischen Jungen, über den Truffaut den Film gedreht hat?«
    »Ja.«
    »Kommen Sie ...«
    »Lassen Sie mich ausreden, Max, bitte.«
    Er lehnte sich in die Kissen zurück, verschränkte die Arme und musterte Julia aufmerksam. »Na, dann schießen Sie mal los.«
    Sie begann, Sachen aus ihrer Mappe zu zerren. Papiere, Bücher, Notizen - sie legte das ganze Sammelsurium auf das Polster zwischen sich und Max, und während er die Dinge einzeln in Augenschein nahm, umriss sie ihre Gedanken. Sie erzählte ihm von den eindeutigen Zeichen der Wildnis - dem offensichtlichen Mangel an Selbstgefühl, dem Mechanismus, sich zu verstecken, den Essgewohnheiten, dem Heulen. Dann erwähnte sie die Dinge, die nicht dazu passten - das Summen, das Nachahmen des Vogelgezwitschers, wie schnell sie gelernt hatte, die Toilette zu benutzen. Als sie ihm alles erklärt hatte, lehnte sie sich zurück und wartete auf seinen Kommentar.
    »Dann meinen Sie also, dass die Kleine den größten Teil ihres Lebens da draußen im Wald zugebracht hat.«
    »Ja.«
    »Und der Wolf, mit dem man sie gefunden hat... Was war er denn dann - so etwas wie ihr Bruder?«
    Verärgert griff Julia nach ihren Papieren. »Ach, vergessen Sie‘s. Ich hätte wissen müssen ...«
    Lachend ergriff er ihre Hand. »Immer mit der Ruhe! Ich will mich nicht über Sie lustig machen, Sie müssen allerdings selbst zugeben, dass Ihre

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